Hat die Kirche wirklich unschuldige Hexen verbrannt?
Kurt Beutler
Fast alles, was der moderne Europäer über die Hexenverfolgung zu wissen glaubt, ist falsch. Zu diesem Schluss kam eine Sendung von WDR 2 («Hexen?» 7.9.2018). Kurt Beutler hat das Thema unter die Lupe genommen.
Schon die verbreitete
Annahme, dass die Hexenverbrennung ihren Ursprung im mittelalterlichen
Europa habe, ist offenbar falsch. Das erklärt übrigens auch der Wikipediaartikel zu «Hexenverfolgung»: Die vorchristlichen Germanen kannten die
Verbrennung von Schadenszauberern seit frühester Zeit. Es handelt sich also
keineswegs um einen christlichen, sondern um einen uralten heidnischen Brauch
und damit kommen wir gleich zur zweiten Überraschung: «Einer systematischen
Hexenverfolgung wurde von kirchlicher Seite her aber jahrhundertelang ein
relativ stabiler Riegel vorgeschoben.» Tatsächlich gab es nach der Ankunft des
Christentums etwa einen 1000-jährigen Unterbruch der Hexenverfolgungen, weil
die Kirche erklärte, Hexen gebe es gar nicht, also müsse man sich auch nicht
vor ihnen fürchten. Angeklagte – ob Frauen oder Männer – erhielten Zuflucht in
Kirchen. Päpste ermahnten Edelleute, so wie etwa Papst Gregor VII den dänischen
König Harald, «nicht bei der Verfolgung von Frauen mitzumachen, denen man die
Schuld an Unwettern, Stürmen und manchen Krankheiten gibt. Dies sei nämlich
unchristlich, unmenschlich und barbarisch.» (Tagespost vom 26.8.2020).
Nicht während, sondern vor und nach Mittelalter
Diese
und ähnliche Worte wurden im Jahr 1080, im Hochmittelalter geschrieben. Damit
sei auch auf einen weiteren Mythos hingewiesen: Hexenverfolgungen fanden nicht
etwa im Mittelalter statt, sondern vor und nach diesem vermeintlich finsteren
Zeitalter. «Erst als zu Beginn der Neuzeit das Christentum an Prägekraft
einbüsst, macht sich wieder der alte germanische Hexenglaube breit.» (WDR 2).
Weltweites Phänomen
Ein weiterer Fehlglaube ist,
dass Hexenverfolgungen oft so dargestellt werden, als hätten sie nur in Europa
stattgefunden. In Wirklichkeit handelt es sich um ein weltweites Phänomen. In
der westlichen Welt hat man diese
traurigen Ereignisse zwar viel häufiger dokumentiert. Doch es gibt sie auf
allen Kontinenten und zwar seit Urzeiten und bis heute. Siehe etwa «Bild» vom
26.12.2017: «Hexenverfolgung im 21. Jhd.: Jedes Jahr Tausende Opfer». Der
Historiker Rune Blix Hagen von der Universität Tromsö erklärte: «Allein in den
vergangenen 50 Jahren wurden mehr Hexen getötet als damals in Europa» (süddeutsche.de, 7. Mai 2010). Im Durchschnitt der letzten
2000 Jahre ist Europa wohl sogar der Kontinent mit den wenigsten Hexentoten.
Gründe der Verfolgung
Doch
woher kommt der Hass gegen sogenannte «Hexen» überhaupt? Geschieht das alles
aus reiner Boshaftigkeit oder nur aus Neid gegen alleinstehende Frauen?
Tatsächlich sind ein Drittel der Getöteten auch Männer. Genauere Beobachtungen
zeigen, dass Hexenverfolgungen fast immer Volksbewegungen sind. Oft sind es
ganze Dorfbevölkerungen, welche eine beschuldigte Person vor ein Gericht
schleifen, oder sie gleich ohne Richter ermorden. Doch was hat sie derart
fanatisiert?
Oft ist nur irrationale Hysterie zu beobachten. Aber am Grund der
Sache findet sich Angst. Diese hat durchaus einen logischen Grund. Das sehen
wir etwa an folgender Geschichte aus dem modernen Indien: («Netzfrauen» vom
30.April 2016): «In Neu Delhi rettete die Polizei ein entführtes vier Monate
altes Mädchen und nahm drei Männer fest – darunter den Onkel der Kleinen, der
sie für ein Opferritual an einen Hexer verkauft haben soll.» Ein paar Tage
später griff ein Mob aus hunderten Dorfbewohnern die Verwandten jenes Onkels
an, «schloss die Familie in ihrem Haus ein und steckte es in Brand. Drei der
Eingeschlossenen verbrannten bei lebendigem Leib, fünf wurden gerettet…».
Es gibt
tatsächlich Menschen, die an Dämonen glauben, und ihnen Menschenopfer
darbringen – meist insgeheim gezeugt und geborene Babies oder entführte Kinder.
Die Angst vor ihnen kann sich leicht zum Volkszorn steigern und an Verdächtigen
entladen. Da trifft es dann oft die Falschen.
Dabei
muss man wissen, dass Europa am Ende des Mittelalters von ungeheuren
Katastrophen heimgesucht wurde. An einer einzigen Pestwelle starb ein Drittel
der Gesamtbevölkerung, dazu Missernten, Kriege und andere Desaster. Es war, als
ob Europa verflucht wäre. Mit der Zeit glaubten die germanischen Völker der
Kirche nicht mehr, welche behauptete, dass es Hexen nicht gebe. Sie erinnerten
sich, dass ihre Urahnen zu ihrem Schutz einst Hexen hingerichtet hatten. So
begannen jene 200 bis 300 Jahre der Hexenverfolgung in Nordeuropa (1450-1750), die
allerdings völlig überbordete. Jeder fürchtete sich vor jedem. Richter, welche
Angeklagte freisprachen, wurden teils selber von der Volksmenge als Hexer
gehenkt. Auch ein Teil der Kirche wurde mitgerissen, wie etwa die Hetzschrift
des Dominikanermönchs Heinrich Kramer zeigt. Diese Volksbewegung war so stark,
dass sogar Aufklärer wie Thomas Hobbes und Jean Bodin sowie einige der
Reformatoren Verständnis dafür zeigten.
Kirche nie direkt beteiligt
Der Historiker Peter Stegt erklärt
allerdings in bild.de vom 19.1.2019: «Die Kirche war nie direkt an den
Hexenprozessen beteiligt.» Der Eindruck, die Kirche hätte Hexenprozesse
organisiert, entstand wohl dadurch, dass auf den Bildern oft Priester zu
sehen sind, welche die Verurteilten zur Hinrichtung begleiten. Es ist
bezeichnend, dass manche Priester und Edelmänner, welche dem Treiben ein Ende
setzen wollten, sogar selber auf dem Scheiterhaufen landeten.
Auch
Arnold Angenendt erklärt in katholisch.de (2.8.2020), dass die
Inquisition kaum Hexenprozesse geführt habe und wenn, dann mit praktisch
sicherem Freispruch. WRD 2 (7.9.2018)
bestätigt: «Es war vor allem die moderne weltliche Justiz, die die
Hexenprozesse durchführte.»
Dass
die Verfolgungen schliesslich in Europa zu einem gründlichen Ende kamen, ist
nicht nur der Aufklärung, sondern auch christlichen Autoren wie Friedrich Spree
zu verdanken («Cautio Criminalis»).