Gemeinsames Abendessen und Gottes Wort, darum ging
es schon ganz zu Beginn der christlichen Kirche – und das entdecken immer
mehr Gemeinden in den USA und Europa neu für sich. Das Programm ist
unterschiedlich, doch etwas haben alle gemeinsam: Essen und Einheit.
Dinner Church in Brooklyn
Die ganzen USA
schauten hin, als 2009 die lutherische Gemeinde St. Lydia in Brooklyn im
Bundesstaat New York anfing, einen wöchentlichen Gottesdienst während des
Abendessens abzuhalten. Die Initiatorin Emily Scott wollte der Einsamkeit
junger Mitbürger etwas entgegensetzen – schliesslich feierten die ersten
Christen das «Mahl des Herrn» auch am Esstisch.
«Kirche um den Esstisch»
Inzwischen gibt
es «Kirche um den Esstisch» im ganzen Land, an der Westküste in Seattle als «Community
Dinners» (Gemeinschaftsmahl – Assemblies of God), in der Kleinstadt Madisonville
in Kentucky als «Disciples of Christ Potluck Church»
(Jünger-Jesu-Liebesmahl-Kirche) und in Chattanooga, der viertgrössten Stadt in
Tennessee («Episcopal Southside Abbey»). Sie alle und mehr probieren, ob und
wie Esstisch-Kirche funktioniert; viele dachten am Anfang, sie wären allein mit
dieser Idee.
2009 waren es vier
«Esstisch-Kirchen», heute gibt es in Nordamerika und Europa über 40, und
ständig werden es mehr. Jede Esstisch-Kirche hat ihren eigenen Stallgeruch,
aber das Prinzip ist gleich: Sie finden zueinander in einer Sprache, die jeder
spricht; Liebe geht durch den Magen, und Hunger hat jeder mal. Auf dem Tisch
mit Stoffservietten, Porzellan und schönem Besteck steht ein herzhaftes Mahl,
man geniesst das Essen und das Ambiente und kommt ins Gespräch mit Männern,
Frauen und Kindern, die man sonst nie treffen würde.
«Die ersten 300 Jahre fand Christentum am Esstisch
statt»
Die
Esstisch-Kirchen sind in vielen Denominationen zu Hause, in evangelikalen und
liberalen; sie treffen sich im Gemeindehaus-Keller, im Restaurant, im Garten,
am Rande von Kunstausstellungen. Es gibt sie in Innenstädten, am Stadtrand und
im ländlichen Raum; Gutsituierte, junge Familien, Langzeit-Arbeitslose aller
Altersgruppen und unterschiedlicher ethnischer Herkunft kommen zusammen und
unterhalten sich lebhaft. Beim Essen kann man anderer Meinung sein und trotzdem
Freunde bleiben. Das Essen ist nicht alles; zum Abend gehören auch Bibellesen,
Singen und Beten, und natürlich tauscht man sich aus über den Bibelabschnitt oder
die Predigt.
Diese neue Art
der Kirche, für die in St. Lydia der Name «Dinner Church» geprägt wurde, hat
sich die ersten Christen zum Vorbild genommen: «Ausserdem trafen sie sich
täglich in ihren Häusern, um miteinander zu essen und das Mahl des Herrn zu
feiern, und ihre Zusammenkünfte waren von überschwänglicher Freude und
aufrichtiger Herzlichkeit geprägt.» (Apostelgeschichte, Kapitel 2, Vers 46).
Auch der Kirchenvater Tertullian schreibt von diesen Liebesmahlen der alten
Kirche auf Grundlage der Einsetzung des Abendmahls – das geschah nämlich beim
Essen! «Die ersten 300 Jahre fand das Christentum vor allem am Esstisch statt»,
weiss Verlon Fosner von den «Community Dinners» in Seattle, der Tertullians
Schriften zur Grundlage nimmt.
Abseits sozialer Barrieren
Was ist das
Besondere an diesen Treffen? Wenn eine bunt gemischte Gruppe bewusst
zusammenkommt, um ein gemeinsames Bedürfnis zu stillen und Gottesdienst zu feiern, dann muss man einfach akzeptieren, dass jeder
etwas anderes braucht und dass jeder etwas anderes erlebt hat, sonst geht das
nicht. Der Apostel Paulus rügte die Gemeinde in Korinth, weil sie Unterschiede zwischen
Arm und Reich machte und so die Ungleichheit kultivierte: Die Armen wurden
nicht satt, andere betranken sich – so wurden in der Gemeinde die Unterschiede
zementiert, anstatt Einheit zu fördern (1. Korinther, Kapitel 11, Verse 17–34).
Die heutigen Esstisch-Kirchen wollen die verbindende Wirkung des «Herrenmahls»
über soziale Barrieren hinweg wieder aufgreifen, um dem grossen Ziel der
Einheit im Leib Christi näherzukommen.
«Miteinander essen zeigt, dass wir nach Einheit
streben»
«Wir sagen, dass
wir Abendmahl feiern – warum nicht konkret und greifbar?» Alex Raabe ist Pastor
beim «Table of Mercy» (Tisch der Gnade) in Austin, Texas. «Das Essen ernährt
unseren Körper, aber es wird zum geistlichen Lebensmittel, und was dadurch
entsteht, das kann man auch ausserhalb der Gemeinde sehen und greifen.»
Natürlich gibt es
am Kirchen-Esstisch auch Meinungsverschiedenheiten; das hindert aber das
Brotbrechen und die gemeinsame Anbetung nicht. «Beim Essen geht das», sagt ein
Teilnehmer der «Simple Church» (Einfache Kirche) in Grafton, Massachusetts. «Es
fühlt sich so normal an. Wenn du an einem leeren Tisch sitzt, dann ist das wie
bei einer Besprechung, und man denkt mehr daran, dass der andere erfolgreicher
ist oder ärmer als man selber. Aber beim Essen erinnert man sich an Mahlzeiten
mit Freunden oder am Familientisch, das ist ein schönes Gefühl, und ich glaube,
dass man dann seine Maske eher fallen lässt.»
Jede Gemeinde hat
ihre eigene Art «Kirche am Esstisch» gefunden, je nach Gemeindeverband und
örtlichen Gegebenheiten, aber alle schaffen es, in der Unterschiedlichkeit der
Einzelpersonen nach Einheit zu streben. «Wenn es mir über den Kopf wachsen will»,
sagt Zach Kerzee, Pastor der «Simple Church», «dann denke ich daran, dass ich
letztlich nur den Rahmen für ein Abendessen biete.»