Die Zukunft Ägyptens ist ungewiss. Das Regime Mubarak versucht mit Chaos-Warnungen die Proteste auszusitzen und die Opposition zu spalten. Eine Machtübernahme durch Islamisten ist nicht abgewendet. Der Westen sollte die bürgerliche Gleichstellung der christlichen Minderheit fordern.
Dass Mubaraks Vizepräsident Suleiman durch Entlassungen Ballast abgeworfen und mit den Muslimbrüdern gesprochen hat, zeigt sein Machtkalkül an. Für die Zugeständnisse gibt die Regierung keine Garantie auf Erfüllung; das Misstrauen lässt die Demonstranten auf der Hauptforderung nach Mubaraks sofortigem Abgang beharren. Laut der NZZ ist das Regime «vom Aufstand wohl erschüttert, aber nicht tödlich getroffen worden». Für Suleiman und die Generäle sei der greise Präsident «nach wie vor die Basis des Staates und nicht der Willen des Volkes, der sich in den Massenprotesten ausdrückt. Das Festhalten an Mubarak bleibt deshalb total, weil sein Abgang den Zusammenbruch des Staates bedeuten würde».
Euphorie und Angst
Laut dem deutschen Ägyptenkenner Eberhard Troeger «schwanken viele Ägypter in diesen Tagen zwischen Euphorie über errungene Freiheiten und Angst im Blick auf die Zukunft». Unterdrückt waren bisher nicht nur die islamistischen Muslimbrüder, diskriminiert war und ist auch die christliche Minderheit von etwa 10 Prozent der Bevölkerung. Während sich westliche Politiker den Kopf zerbrechen, was gegen eine dominante Stellung der islamistischen Bewegung vorgekehrt werden könnte, wird aber die Gleichstellung der Kopten – ein Hauptschritt zur Demokratie – nicht gefordert.
Muslimbrüder und Salafisten
Laut Troeger bleiben die Muslimbrüder, die auf dem Tahrir-Platz zunehmend Präsenz markiert haben, «eine echte Gefahr für eine demokratische Entwicklung Ägyptens». Der französische Islamwissenschaftler Gilles Kepel weist in der Zeitung «Le Monde» auf die Salafisten hin, vom saudi-arabischen Vorbild bestimmte Islamisten, welche die Muslimbrüder an Radikalität zu übertreffen suchen. Die Salafisten seien «moralisch strikt und unnachgiebig, heftig antichristlich, aber (…) gegen jegliche Aktion gegen den Staat eingestellt, solange er dem Namen nach muslimisch ist».
Christen als Bürger zweiter Klasse
Die koptischen Christen Ägyptens dagegen wollen nur Gleichberechtigung in einer freiheitlichen Gesellschaft. Sie sind unter Mubarak aus Führungspositionen des öffentlichen Lebens verdrängt worden und werden als «Bürger zweiter Klasse» behandelt. Der mörderische Anschlag auf die Kirche in Alexandria in der Silvesternacht, der auf heftige Auseinandersetzungen 2010 folgte, warf ein grelles Licht auf ihre prekäre Lage. «Ganz schlimm», schreibt Troeger im idea-Pressedienst, ist die Situation von Konvertiten aus dem Islam, die als «öffentliche Unruhestifter» gebrandmarkt und bestraft werden.
Vorbild Türkei?
Die Hürden für eine demokratische Entwicklung Ägyptens sind hoch. Ob das einzige Vorbild einer «islamischen Demokratie», dasjenige der Türkei, taugt, muss bezweifelt werden. Die Nationalisten, die der modernen Türkei Pate standen, machten den alteingesessenen christlichen Minderheiten den Garaus, durch Genozid und Deportationen. Heute agitieren die Nationalisten gegen Christen, als ob die winzige Minderheit christlicher Türken (ein Promille-Bruchteil) den Zusammenhalt des Landes gefährden würde. Die gemässigten Islamisten von Premier Erdogan verwehren den Christen eine angemessene Präsenz in der Gesellschaft. Der türkische Staat respektiert bisher weder die Eigenheiten der Kurden noch der Aleviten.
Massstab der Freiheit
So hat der Westen allen Grund, die Entwicklung in Ägypten an der Behandlung der christlichen Minderheit (grosse Mehrheit der Kopten, auch Protestanten und Katholiken) und der Gewährung echter Religionsfreiheit zu messen. Troeger weist darauf hin, dass die Ägypter Demokratie im Medienzeitalter noch nicht haben üben können. «Die Abgabe von Macht und der tolerante Umgang mit Andersdenkenden fallen schwer.»
Spatz in der Hand
Die Christen fürchten Überfälle von Kriminellen, die während der Proteste freikamen. Vom Silvester-Anschlag in Alexandria geschockt, sind sie an den Demonstrationen wenig aufgefallen. Der Koptenpapst Shenouda III., der mit Mubarak gegebenen Stabilität verpflichtet, hatte davon abgeraten. «Wir wollen eine säkulare Verfassung anstelle der geltenden religiösen», sagt ein protestierender Kopte. Zahlreiche ägyptische Christen treffen sich in ihren Gemeinden und Wohnungen zum Gebet. Sie sind von ihren Brüdern und Schwestern weltweit zu unterstützen – mit Gebet, das ebenso ausdauernd ist wie der Protest auf dem Tahrir-Platz.