An der Berner Kundgebung vom 25. September schilderte
Joseph Francis die schwere Bedrängnis vieler pakistanischer Christen. Im
Gespräch mit Livenet legt er Details dar und bittet um Unterstützung für seinen
Kampf gegen die berüchtigten Blasphemie-Paragrafen.
Im Oktober will Joseph Francis Gespräche mit Anwälten führen
und dann mit ihnen beim Obersten Gericht des Landes für die Aufhebung des
gesamten Artikels 295 des pakistanischen Strafgesetzbuchs eintreten. Dabei
weiss er: «Mein Leben ist in Gefahr, wenn wir die Aufhebung beantragen.» Alle
Minderheiten im unruhigsten, von Fanatikern geplagten Staat Südasiens würden es
ihm danken, könnten die Schreckensparagrafen abgeschafft werden.
Obwohl kaum je Menschen der Verbrechen wirklich schuldig
gesprochen werden, die Paragrafen also nicht praktikabel sind, haben sie schon
Leid über viele tausend Familien gebracht. Denn wer in Pakistan in den Ruch der
Blasphemie gerät, kann seines Lebens nicht mehr sicher sein; islamische
Fanatiker wollen die Ehre Allahs wiederherstellen, indem sie selbst zur Waffe
greifen. Es braucht nicht mehr als eine simple, böse Verleumdung, um eine
Familie in den Ruin zu treiben.
Verbreitet: häusliche Gewalt
Francis leitet die Hilfsorganisation CLAAS, das «Centre for
Legal Aid, Assistance and Settlement» mit Sitz in der Millionenstadt Lahore. Es
bietet seit bald 20 Jahren bedrängten und bedrohten Menschen Rechtsbeistand,
Hilfe und – wenn sie ihr Zuhause verloren haben – auch Unterschlupf und
Rehabilitation. «Besonders helfen wir Opfern von Blasphemieklagen,
Vergewaltigung, häuslicher Gewalt, Zwangskonversion und Folter durch die Polizei.»
Laut Prospekt haben bisher über 52.000 Opfer und Diskriminierte Dienste von
CLAAS in Anspruch genommen.
Tödliche Waffe bei Neid und Groll
Das Blasphemiegesetz stellt laut dem Menschenrechtler nicht
nur für Christen eine Gefahr dar, sondern für die gesamte Bevölkerung des
Landes. Neid und Groll gegen Mitmenschen sind die Motive, sie der Lästerung
Allahs (295A), der Schändung des Koran (295B) oder abschätziger Bemerkungen
über Mohammed (295C) zu bezichtigen. Nicht nur Menschen andern Glaubens, sondern
auch Nachbarn werden angeklagt.
Der Militärdiktator Zia ul-Haq hatte die Strafrechtsartikel
1986 ins Parlament eingebracht. Wie Joseph Francis berichtet, gab es schon
1869, unter britischer Kolonialherrschaft, eine Strafbestimmung mit einer
Höchststrafe von zwei Jahren. 1927, nach der Ermordung eines Hindu durch
Muslime, hätten die Briten den Artikel ergänzt. Bis 1986 wurden nur neun Fälle
unter Artikel 295A verzeichnet. Seither gab es eine Lawine von Anklagen: bis
2008 468 Anklagen gegen Muslime, 489 gegen Ahmadis (grosse islamische Sekte
pakistanischen Ursprungs mit mehreren Millionen Anhängern im Land), über 200
gegen Christen und fünf gegen Hindus. Wer unter 295B schuldig gesprochen wird,
muss mit lebenslanger Haft rechnen, bei 295C mit der Todesstrafe.
Lawine von Anklagen
2009 und 2010 haben sich laut Francis die Anklagen gehäuft:
Allein 2009 nahm CLAAS 16 Fälle von Christen an; andere Organisationen hatten
sich mit weiteren Anklagen zu befassen. Insgesamt hat CLAAS seit 1992 80
Blasphemie-Fälle bearbeitet. Die Obergerichte und das Oberste Gericht des
Landes, die nach dem Strafgesetzbuch urteilen, sprachen alle angeklagten
Christen frei, sagt Francis. Die Verfassung gibt allen Bürgern Pakistans
gleiche Rechte «aber dem Buchstaben wird derzeit nicht Nachachtung verschafft».
Artikel 2 nennt den Islam als Staatsreligion. (Infolge der Einführung der
Scharia durch Zia ul-Haq gibt es daneben islamische Gerichte, die straf- und
familienrechtliche Fälle beurteilen, etwa Vergewaltigung, Adoption und
Sodomie.)
Medien und Justiz im Visier der Fanatiker
Die englischsprachigen Medien, die von der Oberschichte und
ausländischen Diplomaten gelesen werden, berichten akkurat über die Fälle, aber
die Zeitungen in der Nationalsprache Urdu – mit viel grösseren Auflagen – verdrehen
Dinge und kolportieren verleumderische Anklagen. In dieser aufgeladenen
Atmosphäre hat es die Justiz nicht leicht. Doch die Oberrichter des Staats, die
unter dem Druck der Strasse stehen, beurteilen Blasphemieklagen in vielen
Fällen fair, sagt Francis – obwohl er auch bei manchen Richtern Vorurteile
feststellt. So wird nicht selten die Freilassung auf Kaution verweigert, obwohl
die Anklage haltlos ist. Bis zum Prozess vergehen Jahre; ist der Ernährer die
ganze Zeit in Haft, droht der Familie der Ruin.
Auf dem Land sind die Christen arm. Erwachsene und Kinder
arbeiten für muslimische Landbesitzer und Geschäftsleute. Kommt es zu
Konflikten oder ist der Chef unzufrieden, werden Christen manchmal verleumdet. Dies
geschieht auch, wenn jemand nach ihrem (kleinen) Besitz giert oder wenn Gewalt
gegen ein Mädchen kaschiert werden soll.
Verleumdete verlieren (fast) alles
Tragisch ist, dass die Angeklagten regelmässig aus ihrem Wohnort
fliehen müssen und damit auch die Arbeit verlieren. CLAAS kann ihnen zwar
Unterkunft in einer anderen Stadt anbieten, aber in die Öffentlichkeit gehen
und auswärts Arbeit annehmen können sie sich nicht mehr – Fanatiker würden es
als ehrenhaft ansehen, sie zu ermorden. Dasselbe Schicksal trifft aber auch
Muslime: Auch sie sind, wo man sie kennt, am Leben bedroht.
Francis lebt gefährlich, muss sich zwischenzeitlich
verstecken. «So viele Leute werden getötet – einige sogar im Gerichtssaal. Ein
Richter, der 1995 zwei Christen freigesprochen hatte, wurde zwei Jahre später
erschossen. 35 Gläubige wurden im Gefängnis, in Polizeigewahrsam oder im
Gerichtsgebäude umgebracht.» Erst am 19. Juli 2010, berichtet Francis, wurden
zwei Pastoren, wegen Lästerung angeklagt, im Gerichtsgebäude von Faisalabad
erschossen.
Am Rand des Chaos
Der berüchtigte Strafrechtsartikel lenkt nur ab von
Vergehen, die bestraft gehören – und aktuell in Pakistan zu selten sanktioniert
werden. «Der pakistanische Staat schafft es nicht, dem Gesetz Nachachtung zu
verschaffen», sagt Francis. Auch die Provinzregierungen seien machtlos gegen
die extremistischen Umtriebe. «Im Machtkampf der beiden grossen Parteien sind
zahlreiche islamistische Bewegungen aufgekommen, die das Land destabilisieren.
Die verheerenden Überschwemmungen haben die Situation weiter verschlimmert.»
Joseph Francis bittet um Fürbitte für sich und die Anwälte,
um moralische und finanzielle Unterstützung. Er regt an, Briefe zu seiner
Unterstützung zu senden an den pakistanischen Premierminister Jusuf Gilani, an
die Obersten Richter und die Oberrichter von Lahore.