Seco-Direktor Gerber

«Nächstenliebe kann heissen, nicht zu helfen»

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Jean-Daniel Gerber
Christliche Nächstenliebe ist auch im wirtschaftlichen Handeln wichtig. Manchmal besteht Nächstenliebe aber gerade darin, dass man nicht hilft. Das meint der Direktor des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), Jean Daniel-Gerber. Im Interview mit idea Spektrum Schweiz versucht er wirtschaftliche Gerechtigkeit zu erklären.

idea: Wann stellen Sie sich die Gerechtigkeitsfrage?
Jean-Daniel Gerber: Oft, etwa bei der ganzen Diskussion um die Steuerprogression und die Steuerflucht, bei den Rohstoffpreisen, bei Unternehmensrestrukturierungen, wenn Angestellte auf die Strasse gestellt werden oder auch in unseren Beziehungen zu den ärmeren Ländern.

Heute kommen regelmässige Rekordgewinne der Grosskonzerne und extrem hohe Managerlöhne beim kleinen Lohnempfänger zwiespältig an.
Rekordgewinne sind mir lieber als das Gegenteil. Die hohen Managerlöhne hingegen kommen ganz allgemein schlecht an. Wenn ich bei den Gewerkschaften von notwendigen Strukturanpassungen spreche, kommt regelmässig die Frage: Und was sagen Sie zu den Managerlöhnen? Diese Löhne sind nicht zu rechtfertigen. Sie wecken zudem den falschen Eindruck, die Einkommensverteilung in der Schweiz verschiebe sich zugunsten der Reichen.

Und das ist nicht der Fall?
Ein Blick in die Statistik zeigt, dass die Einkommensverteilung in unserem Land in den letzten zehn Jahren ziemlich stabil geblieben ist. Einzig das alleroberste Segment ist im Vergleich zu den übrigen 99 Prozent der Bevölkerung reicher geworden. Das schweizerische Bruttosozialprodukt erreicht 500 Milliarden Franken. Da fallen die Einkommen der wenigen, die 20 Millionen und mehr verdienen, nicht ins Gewicht. Doch der psychologische Schaden ist enorm.

Ist es gerecht, wenn ein Bundesrat 400‘000 Franken verdient und ein durchschnittlicher Bankmanager 2 Millionen?
Jeder ist frei, in Kenntnis des Lohns für die Wahl zum Bundesrat zu kandidieren. Mit gleicher Berechtigung könnten Sie fragen, warum ein Spitzenchirurg 2 Millionen verdient und die Krankenschwester sich mit 70‘000 Franken begnügen muss, oder der Pfarrer mit 100‘000, der Sigrist jedoch mit 50‘000.

Wie erklären Sie es?
Der Lohn ist der Preis für die Arbeit. Ein Kranker ist bereit, für die Arbeit eines Spitzenchirurgen viel zu bezahlen, ein Kunstliebhaber wird für die Arbeit eines Spitzenmalers ein Vermögen ausgeben, der Manager eines Tennisturniers wird für die Arbeit von Roger Federer auf dem Court mehr bieten als für meinen Auftritt. Wer den Lohn unter dem Titel der Gerechtigkeit analysieren will, wird grosse Mühe haben. Karl Marx und viele andere haben es versucht. Das Resultat war stets unbefriedigend und schaffte neue Ungerechtigkeiten.

Bundespräsident Couchepin sagte im idea-Interview, Schweizer Politiker seien überwiegend ehrliche Leute, was mit der christlichen Tradition und Ethik zu tun habe. Wirkt sich dieser religiöse Hintergrund auch auf das wirtschaftliche Handeln aus?
Ich stimme dieser Aussage zu. Allerdings sollten wir Christen nicht den alleinigen Anspruch auf Ehrlichkeit erheben. Bereits Plato definierte Gerechtigkeit als die Tugend des rechten Verhaltens gegenüber den Mitmenschen. Wirkt sich der christliche Hintergrund auf unser wirtschaftliches Handeln aus?

In Analogie zu Plato bin ich versucht zu sagen, dass wirtschaftliche Gerechtigkeit ein Tun bedeutet, das meinem Geschäftspartner, ob Produzent, Angestellter, Käufer oder Verkäufer, nicht schadet. Also keine falschen Versprechungen oder irreführende Werbung, keine Übervorteilung, sondern das Einhalten von Qualität und Terminen, prompte Bezahlung etc. Es ist auch ein Zeichen des christlichen Gebots zur Nächstenliebe, in unserem wirtschaftlichen Handeln dem Nächsten zu helfen und ihn nicht zu schädigen.

Was könnte sich in der Wirtschaft ändern, wenn dem Gebot zur christlichen Nächstenliebe stärker nachgelebt würde?
Ich kenne keine allgemeingültige Definition der Nächstenliebe. Sicher sollte man nicht etwas tun, was man sich selber nicht wünscht. Das Gebot geht aber weiter, doch wie weit genau? Es ist unsere christliche Pflicht, ständig danach zu suchen und unser Handeln nach bestem Wissen und Gewissen auszurichten. Nächstenliebe bedeutet Unterstützung und Hilfe. Manchmal besteht Nächstenliebe aber auch gerade darin, dass man nicht hilft. Einen Wirtschaftszweig immer wieder zu subventionieren, obwohl er nicht lebensfähig ist, geht zu Lasten der ehrlichen Steuerzahler, protektionistische Massnahmen oftmals zu Lasten der wettbewerbsfähig werdenden Entwicklungsländer. Ein Almosen für einen Bettler kann ihn davon abbringen, endlich eine Arbeit aufzunehmen.

Die Bergpredigt, das Gebot der Nächstenliebe: Ist die christliche Ethik in diesem radikalen Sinn in der Wirtschaft überhaupt anwendbar?
Heute viel mehr als vor 2000 Jahren. Zur Zeit von Christus lebten die meisten Menschen von der Subsistenzwirtschaft. Sie hatten gerade genug zum Leben. Im Gegensatz zu Christi Zeiten, wo der Bedürftige durch die Angehörigen und Bekannten versorgt wurde, ist heute die Wirtschaft oftmals an deren Stelle getreten. Sie finanziert zur Hälfte die Arbeitslosenkassen, die Hälfte der Berufsunfallversicherung und die Hälfte der AHV und IV. Wir müssen also dafür sorgen, dass die Wirtschaft in der Lage ist, Arbeitsplätze und Gewinne zu erwirtschaften, die es überhaupt erst ermöglichen, diese Beträge einzuzahlen. Die andere Hälfte zahlen die Arbeitnehmer mit ihrem Lohn. Und trotz dieser Zahlungen reicht es zusätzlich noch für ein Auto, Hobbys und Ferien. Dennoch sind wir unzufrieden und leben in einem Zeitalter der finanziellen Spannungen.

So führen christliche Ethik und wirtschaftliches Denken in eine dauernde Spannung?
Nein, das glaube ich nicht. Lesen Sie das Gleichnis über die anvertrauten Pfunde. Wer wird am Schluss verurteilt? Derjenige, der seine Fähigkeiten nicht zu nutzen weiss. Auch der Protestantismus hat das Leistungsprinzip hervorgehoben, so dass sich ein Wohlstandsgraben zwischen reformierten und katholischen Ländern aufgetan hat, der erst im 20. Jahrhundert überwunden wurde.

Schafft Wirtschaftswachstum mehr soziale Gerechtigkeit?
Ohne Wirtschaftswachstum gibt es keine soziale Gerechtigkeit. Fragen Sie einen Angestellten, wann er die letzte Lohnerhöhung abgelehnt hat. Ohne Wirtschaftswachstum wäre eine Lohnerhöhung für ihn ja nur möglich, wenn ein anderer Angestellter weniger verdient. Wie wollen wir ohne Wachstum in einem Zeitalter, wo es immer mehr alte und weniger junge Bürgerinnen und Bürger gibt, die AHV oder die Pensionskasse finanzieren? In der Theorie kann man sich Modelle ohne Wirtschaftswachstum vorstellen. In der Praxis haben alle versagt. Keine demokratisch gewählte Regierung überlebt längere Zeit ohne Wirtschaftswachstum.

In einer begrenzten Welt wird es doch einmal Grenzen des Wachstums geben.
Die Kunst der Volkswirtschaft ist es, ständig nach dem richtigen Gleichgewicht zwischen Wachstum, sozialer Gerechtigkeit und dem Schutz der Umwelt zu suchen: nach Nachhaltigkeit. Auch die Umweltprobleme lassen sich in einer nicht wachsenden Volkswirtschaft kaum lösen. Anschauungsunterricht bieten die frühere Sowjetunion oder die Umweltprobleme in manchen Entwicklungsländern. Neue Technologien erlauben es auch, die beschränkten Rohstoffe effizienter zu nutzen. Auch die globale Erwärmung und den CO2-Ausstoss werden wir letztlich nur dank Forschung und Entwicklung eindämmen können, was entsprechende Finanzen nötig macht.

Die alte Eidgenossenschaft war ein Land ohne Wachstum, sie konnte ihre Bevölkerung nicht ernähren, viele mussten in den Söldnerdienst oder auswandern. Und heute? Heute ernährt unsere Welt 7 Milliarden Menschen, vor 30 Jahren war es die Hälfte. Der technologische Fortschritt, die Innovation ermöglicht uns, die Grenzen des Wachstums immer wieder hinauszuschieben.

Wie viel Entwicklungshilfe wäre für die Schweiz «gerecht»? Sind das die momentanen 0,4 Prozent des Bruttosozialproduktes oder wären es 0,7 Prozent, wie von christlichen Organisationen gefordert?
Es ist müssig, einen festen Prozentsatz für die Entwicklungshilfe festzulegen. Wichtig ist, dass gute Projekte auch die Finanzierung finden, und da genügen 0,4 Prozent nicht. Mehr als zehn Jahre meines Berufslebens habe ich der Entwicklungszusammenarbeit gewidmet und befürworte diese voll und ganz. Etwa zwei Drittel der Projekte sind erfolgreich, ein Drittel scheitert. Wegen des letzten Drittels wird die Entwicklungszusammenarbeit schlecht geredet. Dass ein Drittel scheitert, ist normal, schliesslich finanzieren wir über die Entwicklungshilfe Projekte mit hohen Risiken, welche die Privatwirtschaft nicht bereit ist zu tragen. Gerade diese Projekte stehen jedoch oft am Anfang einer erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung.

«Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen» heisst es in der Bundesverfassung. Was könnte zur Stärkung unseres Volkes beitragen?
Ich habe die Präambel unserer Verfassung sehr gerne. Sie drückt meine eigene Philosophie gut aus. Doch darf die Aussage über die Schwachen nicht an der Schweizer Grenze halt machen. Es bedrückt mich, glücklich innerhalb unserer engen Grenzen zu leben, wenn weiterhin weltweit drückende Misere herrscht.

Was würde Jesus heute zum Bankmanager, zum Seco-Chef und zum kleinen Konsumenten sagen?
Aus meiner beschränkten Sicht der Dinge könnte ich mir folgende Aussage von Jesus vorstellen: «Mein Wort gilt für euch alle, gestern, heute und morgen.»

Jean-Daniel Gerber, 61, verheiratet, zwei Kinder. Der studierte Volkswirtschafter steht seit 35 Jahren im Dienst der Eidgenossenschaft. Er war Vertreter bei der WTO, Chef des Dienstes für Entwicklungsarbeit im Seco, Leiter des Wirtschafts- und Finanzdienstes in der Schweizer Botschaft in Washington, Exekutivdirektor in der Weltbankgruppe und Direktor des Bundesamtes für Flüchtlinge. Seit 2004 Staatssekretär und Direktor des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) in Bern, dem Kompetenzzentrum des Bundes für alle Kernfragen der Wirtschaftspolitik mit rund 610 Mitarbeitenden.

Kommentar

Wer wirtschaftet gerecht?

Von David Sommerhalder

Der Wirtschaft geht es gut. Es herrscht Hochkonjunktur. Die Gewinne sind hoch, die Arbeitslosenzahlen tief. Doch die Meldungen aus dem Bankensektor drücken die Stimmung: Immer neue milliardenschwere Abschreiber werden bekannt. Nach der UBS steht seit letzter Woche mit der Credit Suisse die zweite Schweizer Grossbank arg unter Druck. Warnen uns die Ereignisse der Bankenwelt vor den Grenzen des Wachstums? «Nein», erklärt Jean-Daniel Gerber entschieden. Der Seco-Direktor will nichts von diesen Grenzen wissen - bisher habe sie ihm niemand zeigen können. Und er betont: «Ohne Wachstum gibt es keine soziale Gerechtigkeit.» (Seite 4) Wir sitzen im mit dunklem Holz verkleideten Besprechungsraum, gleich neben Gerbers Büro im Seco-Hauptgebäude in Bern. Rita Baldegger, die Kommunikationsfachfrau Gerbers, sitzt auch am Tisch. Konzentriert hört sie den Aussagen ihres Chefs zu und rutscht jedes Mal etwas unruhig auf ihrem Stuhl herum, wenn Gerber etwas allzu Persönliches sagt. Der lässt sich davon nicht allzu sehr beeinflussen. Unverblümt erklärt er seine Meinung zum Thema «Gerecht wirtschaften». Dass es dabei vor allem um die perfekte Balance zwischen wirtschaftlichem Wachstum, sozialer Gerechtigkeit und dem Erhalt der Umwelt gehe. Und dass die Schweiz mit dem Rest der Welt verstärkt solidarisch sein und mehr geben sollte.

Immer wieder kommt Gerber auf Gleichnisse von Jesus zu sprechen. Der Blick des Seco-Direktors auf die Heilige Schrift ist ein kritischer. Das gipfelt in der Aussage, dass Jesus auch ungerecht entschieden habe. Doch Gerber kennt auch die Symbolsprache der Gleichnisse. Und er weiss es sehr wohl: Egal, wie wir uns anstrengen und wie gut wir auch handeln - am Ende sind wir allein von der Gnade Gottes abhängig. «Denn nur durch seine unverdiente Güte seid ihr vom Tod errettet worden. (...) Durch eigene Leistungen kann man bei Gott nichts erreichen», heisst es in Epheser 2,8+9. Das gilt auch für Wirtschaftsführer. Das schliesst keineswegs aus, dass Jesus zum Beispiel im Gleichnis von den Talenten auch auf das «Leistungsprinzip» baut, wie Gerber zu Recht erwähnt.

Doch gerecht wirtschaften kann am Ende nur, wer neben dem Wachstum, der sozialen Gerechtigkeit und der Umwelt auch die Abhängigkeit von Gott im Auge behält. Dann bleiben wir nicht mehr «Egoisten, die im täglichen Überlebenskampf stehen», wie es Gerber ausdrückt. Und dann steht der Himmel auch den Reichen offen. Frau Baldegger sagt am Ende des Gesprächs, hier seien viel persönlichere Fragen als bei anderen Interviews aufgegriffen worden. Es ist zu hoffen, dass die persönlichen Fragen auch zu persönlichen Antworten führen - nicht nur im Kopf und im Herzen des Seco-Direktors.

Interview: Andrea Vonlanthen

Datum: 01.02.2013
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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