Vor 500 Jahren übersetzte Martin Luther die Bibel ins Deutsche. Doch heute ist seine Sprache nicht mehr so leicht verständlich. Einer, der die Bibel ins heutige Deutsch übersetzt, ist Roland Werner. Wie geht er vor?
Im September vor 500 Jahren erschien Luthers deutsche Übersetzung des
Neuen Testaments, das sogenannte Septembertestament. Pünktlich zur
Leipziger Buchmesse wurde das Werk fertig, übersetzt, gedruckt, gebunden
– und das in einer Auflage von 3'000 Exemplaren.
Luthers Bibelübersetzung war nicht die erste in deutscher Sprache.
Aber sie ist die einflussreichste und bekannteste. Allein sprachlich ist
die Lutherbibel eine Institution. Manche Formulierungen sind als
Redewendungen ins kulturelle Gedächtnis eingegangen. Viele Bibelverse
haben in Luthers Übersetzung eine grosse Prägekraft entfaltet.
Wer zu Weihnachten regelmässig in einen evangelischen Gottesdienst
geht, hat den melodischen Klang der Worte aus dem Lukasevangelium
womöglich im Ohr: «Es begab sich aber zu der Zeit, da ein Gebot von
Kaiser Augustus ausging…» Der Reformator legte Wert auf eine schöne,
ästhetische, musikalische Sprache. Aber vor allem ging es ihm um
Verständlichkeit. Der Ausdruck «dem Volk aufs Maul schauen» ist
ebenfalls sprichwörtlich. Der stammt allerdings nicht aus der Bibel,
sondern beschreibt Luthers Ziel, die Bibel in die Alltagssprache der
Menschen zu übertragen.
Übersetzungen ins heutige Deutsch
Doch auch Liebhaber von Luthers Sprache müssen zugeben: So redet heut
niemand mehr. Die revidierten Fassungen der Lutherbibel in den
vergangenen Jahrzehnten, zuletzt die Version von 2017,
sind keine Übersetzungen ins heutige Deutsch. Sondern eben noch Luther.
Der Gegenwartssprache haben sich andere Bibelausgaben verschrieben, wie
die «Gute Nachricht», die «Hoffnung für Alle», die «BasisBibel» oder «Das Buch» von Roland Werner.
Aus einem persönlichen Impuls heraus begann der Marburger Theologe,
das Neue Testament zu übersetzen: Ein australischer Freund hatte die
Idee dazu, und noch in derselben Nacht setzte sich Werner an das
Matthäus-Evangelium. Als ein Verlag Interesse zeigte, machte er sich an
den Rest des Testaments. 2009 erschien es als «Das Buch». Später kamen
die Psalmen dazu, in diesem Herbst kam eine neue Auflage erstmals mit
den Sprüchen heraus. Den Rest des Alten Testaments will Werner aber
nicht übersetzen. Vorrang hat derzeit ein Übersetzungsprojekt in eine
nordafrikanische Sprache, in der das Neue Testament 2024 gedruckt werden
soll.
Keine Interpretation des Übersetzers
Werner ist es wichtig, dass Menschen die Bibel verstehen, auch wenn
sie nicht christlich sozialisiert sind. Deshalb versucht er in seiner
Übersetzung, religiöse Begriffe zu umschreiben, wenn sie in der
Alltagssprache wenig gebräuchlich sind. «Gnade» ist bei Werner die «freundliche Zuwendung», denn im griechischen Wort dafür – charis –
steckt auch die Bedeutung Freude drin. «'Gnade' hört sich im Deutschen
schwer an», findet Werner. «Gnade vor Recht» ist eine bekannte
Formulierung, die das Wort in einen bestimmten juristischen Kontext
stellt.
«Wir haben es bei der Übersetzung nicht nur mit dem einzelnen Wort zu
tun, sondern auch mit Kontexten und Assoziationen, die es weckt.» Auch
das «Reich Gottes» erscheint ihm in der heutigen Sprach- und
Gedankenwelt statisch und als etwas eher Historisches. Er spricht daher
lieber von der «neuen Wirklichkeit Gottes».
«Dynamische Äquivalenz»
Beim Übersetzen ist ihm das Prinzip der «dynamischen Äquivalenz» wichtig. Davon sprach auch Luther in seinem «Sendbrief vom Dolmetschen».
Es müsse nicht die exakt selbe Formulierung wie im Grundtext heraus
kommen. Vielmehr gehe es darum, welche Wirkung die Worte beim Leser
hervorrufen, erklärt Werner. Die sollte in jeder Sprache gleich sein.
Aber eigene Interpretation des Übersetzers gehörten nicht dazu. Deshalb
will Werner möglichst genau und sachlich korrekt am Text bleiben.
Er nennt als Beispiel die Begegnung von Jesus und Petrus nach der
Auferstehung (Johannes, Kapitel 21, Verse 15–17). Jesus fragt den Jünger, der ihn nach
seiner Verhaftung verleugnet hatte, dreimal, ob er ihn liebt. Und Petrus
bestätigt dreimal, dass er Jesus liebt. So übersetzen es die meisten
Versionen. Werner berücksichtigt allerdings die unterschiedlichen
Begriffe für «Liebe» im Griechischen – die hingebende Agape, und die
freundschaftliche Philia. Auf die beiden ersten Fragen von Jesus
antwortet Petrus bei Werner daher mit «Du weisst, dass ich dein Freund
bin». Und das dritte Mal fragt Jesus selbst nach der Philia-Liebe, was
Werner mit der Frage nach der Freundschaft übersetzt. Ein kleiner, aber
feiner Unterschied.
Wo andere Übersetzungen in der Weihnachtsgeschichte formulieren, dass
Maria und Josef keinen Raum in der Herberge, im Gasthaus oder in der
Unterkunft finden, schreibt Werner: «Es gab für sie keinen geeigneten
Platz im Wohnraum.» «Es kommt darauf an, was man sich unter einer 'Herberge' vorstellt», sagt er. Es sei historisch wahrscheinlicher, dass
Maria und Josef zu Verwandten gereist seien, deren Gästebereich bereits
belegt war.
Wie weit ist es bis Emmaus?
In einem weiteren Detail unterscheidet sich «Das Buch» von anderen
Übersetzungen. Das Lukas-Evangelium berichtet von zwei Jüngern, die nach
dem Tod von Jesus frustriert in den Ort Emmaus laufen. Unterwegs
begegnen sie dem auferstandenen Jesus, ohne ihn gleich zu erkennen. Als
es ihnen plötzlich klar wird, wen sie da getroffen haben, gehen sie in
derselben Nacht voller Freude zurück nach Jerusalem, um den anderen
Jüngern davon zu berichten.
Die meisten Übersetzungen geben die Entfernung zwischen Jerusalem und
Emmaus mit der Einheit 60 Stadien an oder zwischen zehn und zwölf
Kilometern. Bei Werner sind es 30 Kilometer. Wie kommt er darauf? «In
den Handschriften gibt es zwei verschiedene Traditionen – die eine
spricht von 60, die andere von 160 Stadien», erklärt er. Dazu kommt: Es
gibt im Umkreis von Jerusalem mehrere Orte namens Emmaus. Für Werner ist
klar, dass es das weiter entfernte sein muss. Denn dort haben bereits
die frühen Christen eine Kirche erbaut, um ihn als besondere Stätte zu
würdigen.
Das Argument, die Entfernung sei zu gross, um an einem Tag hin und
zurück zu gehen, lässt er nicht gelten. Zum einen sei das mit etwas
Ausdauer und der nötigen Motivation – die war ganz offensichtlich
gegeben – durchaus möglich, zum anderen hätten sie auf dem Weg nach
Jerusalem auch mit einem Esel reiten können, der Text liefert dazu keine
Details.
Inspiration aus internationalen Versionen
«In der Übersetzung sind viele Entscheidungen für oder gegen
bestimmte Formulierungen verborgen, die ich aber im Buch nicht
begründe», sagt Werner. Auf Anmerkungen zum Text hat er bewusst
verzichtet, er will den Text für sich sprechen lassen. Beim Übersetzen
ist er Stück für Stück, Vers für Vers vorgegangen, immer wenn er Zeit
dazu fand.
Zunächst fertigte er zwei bis drei Versionen eines Abschnittes an,
die er mit ein paar Wochen Abstand in weiteren Durchläufen überarbeitete
und sich auf eine Fassung festlegte. Oft fragte er auch Kollegen um Rat
zu theologischen und historischen Hintergründen. Das Neue Testament
übersetzte Werner aus dem Griechischen, ohne andere deutsche Versionen
zurate zu ziehen. Dafür dienten ihm Übersetzungen in andere Sprachen,
Dänisch, Französisch, Niederländisch, Norwegisch zum Beispiel, als
Inspiration.
Für die Psalmen und die Sprüche, die er aus dem Hebräischen
übersetzte, schaute er an unklaren Stellen auch, wie Luther oder die
katholische Einheitsübersetzung sie formulierten, wie es in englischen
Versionen, in der Septuaginta – der ersten griechischen Übersetzung des
Alten Testaments – oder der lateinischen Vulgata heisst.
Buch der «Sprüche» besonders herausfordernd
Besonders herausfordernd sei das Buch der Sprüche gewesen. «Die
Sprüche sind poetisch gedrängt. Das Hebräische ist dafür sehr geeignet,
aber um annähernd den Sinn zu erhalten, braucht man im Deutschen mehr
Wörter. Dann geht aber der Charakter der gedrängten Poesie verloren.»
Und er stellte fest, dass es einzelne Verse gibt, in denen der
Sinngehalt nicht eindeutig zu erkennen ist und für die verschiedene
Übersetzungen teilweise gegenteilige Formulierungen wählten.
Bei jeder Übersetzung werden Entscheidungen getroffen, erklärt
Werner. Auch weil die Handschriften in manchen Punkten voneinander
abweichen. «In den meisten Fällen lässt sich aber durch Vergleiche
verschiedener Versionen und Übersetzungen rekonstruieren, was die
ursprüngliche Variante ist.»
«Dass Luther die Bibel so gut übersetzen konnte, liegt daran, dass er
sie so gut kannte», erklärt Werner. Er selbst ist ein
leidenschaftlicher Bibelleser: Mehrmals hat er sie in verschiedenen
Sprachen komplett gelesen. Weil er auf ein altsprachlich-humanistisches
Gymnasium ging, lernte er bereits als Jugendlicher Griechisch, Latein
und Hebräisch. Später studierte er evangelische Theologie, Semitistik,
Afrikanistik und Religionswissenschaften und schrieb zwei Doktorarbeiten
zur Sprache und zum frühen Christentum in Nubien.
Geht ein kultureller Grundwortschatz aus der Bibel verloren, wenn die
Menschen heute seine oder eine andere moderne Übersetzung lesen statt
Luther? «Das kann schon passieren. Aber das viel grössere Problem ist
doch, dass heute viele Menschen gar keine Bibel mehr lesen.»