Sam Urech ist von Gott enttäuscht. (Bild: AdobeStock / Sebastian Heeb)
Sollten Sie nicht damit klarkommen, dass sich unser Kolumnist Sam Urech über Gott aufregt, dann sollten Sie besser wegklicken. Oder Sie lesen erst recht Sams Gedanken, vielleicht sprengen sie auch bei Ihnen falsche Muster.
Normalerweise läuft das so: Ich ziehe Sie mit einem provozierenden
Titel in den Artikel, erzähle, wie ich mich über Gott aufrege, kratze dann die
Kurve, lobe Gott trotz allem und beende die Kolumne mit Vertrauensparolen, die
uns neu ermutigen. Diesmal nicht.
Kommt in mir Kritik an Gott auf, wird sie sofort
erstickt: «Sam, siehst du nicht, wie dankbar du sein kannst? Du hast eine
wunderbare Frau und zwei grossartige Söhne. Geh auf die Knie und tue Busse
dafür, dass du an Gott zweifelst!»
Und weiter: «Enttäuscht von Gott? Das kann man gar
nicht sein, denn Gott macht ja keine Fehler – falls es also Grund gäbe für
Enttäuschung, zeigt das nur, wie sehr ich mich noch an irdische Dinge klammere
und wie wenig Freiheit mein Leben kennt.»
Alles aufs Spiel gesetzt und verloren
Das ist alles Schwachsinn! Gott hat uns einen freien
Willen gegeben und damit alles, wirklich alles, aufs Spiel gesetzt – und
verloren. Adam hat sich gegen ihn entschieden, die Welt ging bachab. Schon
Adams erster Sohn wird zum Mörder, das Unheil nimmt seinen Lauf.
Gott wusste das schon im Voraus, er wusste, dass er
tausende Jahre später mal seinen eigenen Sohn abschlachten lassen muss, um das
wieder zu kitten. Aber der freie Wille der Menschen war ihm so unendlich
wichtig, dass er dafür alles in Kauf nahm.
Ja, alles: Vergewaltigung, Folter, Sklaverei,
geistlichen Missbrauch, den 1. und 2. Weltkrieg, alles, einfach alles. Er hätte
das Leid dieser Welt ganz einfach verhindern können. Aber nein, er wollte
uuuunbedingt Menschen, die ihn aus freiem Willen lieben.
Freunde, Gott wollte Freunde
Also keine Menschen, die nicht frei fühlen und denken,
nein, Menschen, die seine Freunde sind. Keine blinden Nachfolger, die alles
gutheissen und über allem Halleluja schreien. Nein, Menschen, mit Gefühlen.
Menschen mit Grenzen.
Und eigentlich sind meine Grenzen längst erreicht.
Trotz allem Segen, den ich als Schweizer empfange, trotz allem Guten. Da gibt
es Personen, für die bete ich schon mein halbes Leben, ohne dass sich Gott
scheinbar einen Deut um sie kümmert.
Oder sonst gibts Situationen, die dringend göttliches
Eingreifen benötigten und ich seit Jahren im Gebet wälze. Passiert etwas? Nein,
nichts, nada. Sofort ruft die Stimme in mir: «Sam, es passiert nichts
Sichtbares. Gott wirkt schon, hab Geduld! Gott prüft dein Herz.»
Antworten, die uns stillhalten sollen?
Kennen Sie dieses hässliche Gefühl, wenn Sie selbst auf
alle Zweifel und Enttäuschung sofort Antworten haben, die Sie jedoch nur
vordergründig beruhigen? Ich bin so geprägt, dass ich mir in jedem Leid sogleich
mal vorstelle, dass es noch Menschen gibt, die schlimmer leiden. «Ach jö, du
leidest? Und was, wenn du in Nordkorea leben würdest? Also sei still und tue
Busse für deine Anklage!»
Stopp, das ist alles Blödsinn! Wir dürfen klagen, ja,
wir sollen klagen. Wenn wir Traurigem nicht in Trauer begegnen, wie können wir dann
Gutes umarmen?
Die FEG Wetzikon wird von einem tödlichen Verkehrsunfall
erschüttert, ein 26-Jähriger ist von uns gegangen. Und sofort höre ich aus
allen Ecken und sage es auch selber: «Er ist jetzt im Himmel, wie schön!» Ja,
klar, das stimmt. Das ist tatsächlich ein Trost, keine Frage.
Und doch frage ich mich, wo Gott während dem Unfall
war? «Er hat es zugelassen, weil es gut so ist. Alle Dinge dienen zum Besten.»
Ja, auch das stimmt. Aber passen wir bitte auf, dass dieses Totschlagargument
nicht unsere Gefühle zertritt.
Gott will unsere Enttäuschung hören
Denn Gott will Gefühle, alles andere ist unecht. Jeder
Mensch kann sich blinden Gehorsam antrainieren: In jeder Religion, in jedem
Regime. Will das Gott? Ich glaube, er will unsere loyale Nachfolge UND unsere Freundschaft.
Also unsere Liebe, aber auch unsere Wut. Unsere Enttäuschung.
Wenn meine Freundschaft zu Jesus keine Anklage
erträgt, ist es keine Freundschaft. Ich möchte lernen, mein Unverständnis,
meine Wut und meine Enttäuschung auszudrücken, Gott vor den Thron zu werfen und
auszuhalten.
Mal gucken, ob Jesus mich tröstet und wie er das tut.
Aber meistens lasse ich es ja gar nicht so weit kommen, weil meine religiöse Sturheit
schon jeden Zweifel mit irgendwelchen Parolen wegfegt.
Zum Autor: Sam Urech ist 37-jährig, verheiratet und Vater von zwei
Buben. Mit seiner Familie besucht er die Freikirche FEG Wetzikon. Sam hat viele
Jahre beim Blick als Sportjournalist gearbeitet und ist heute Inhaber der Kommunikations
Agentur «ratsam». Er schreibt jeden Freitag auf Nau.ch seine Halleluja-Kolumne.
Sollten Sie mit ihm Kontakt aufnehmen wollen, machen Sie das am besten via Facebook.
Datum:
24.06.2021 Autor: Sam Urech Quelle: Livenet
Kommentare
Submitted by Hanspeter Obrist on 25. Juni 2021 - 15:27.
Leiden bringt uns an die Grenzen des Verstehens und führt uns in die Welt des Vertrauens.
Submitted by pisteuo on 25. Juni 2021 - 9:20.
2) verzichten, trotz der kostbaren Erfahrung. Du darfst dankbar für dein Glück sein. Ich gebe keine Ratschläge, ich sage nur, dass mich solche Fragen nicht mehr aus dem Konzept bringen, weil sie, wenn ich's mir recht überlege, mein Verhältnis zu Gott gar nicht berühren. Ich habe auch keine Antworten auf das Warum, aber ich bin ganz gewiss, dass wir eines Tages die Antworten bekommen werden. Wahrscheinlich müsste Gott zu viel von seinen Plänen preisgeben, wenn er sie uns schon heute gäbe.
Submitted by pisteuo on 25. Juni 2021 - 9:07.
1) Lieber Sam Urech, ich musste zwei Stürze ins Bodenlose durchmachen, (einmal ohne, einmal mit Gott), bevor mich solche Fragen nicht mehr plagten. Als mir das unerklärliche Leid ganz nahe kam, wurden sie, inkl. gütiger Ratschläge und Trostversuche, einfach weggefegt, hatten keine Relevanz mehr. Es war vermeintlich nichts mehr da, das «verhebte», ich wähnte sogar meinen Glauben aufgelöst. Eines Tages kam ich wieder zu mir und fühlte Boden unter mir. Als ich zurückschaute, merkte ich, dass Gott mich mittels meines Glaubens – das einzig Stabile – immer gehalten hatte. Ich wünsche solche Erfahrungen niemandem; wenn ich wieder wählen könnte, würde gerne darauf ...
Kommentare