Aber dann folgte die Entdeckung von 1930, ein Fund, der in seiner grossen Bedeutung nur mit dem Codex Sinaiticus zu vergleichen ist. Gegenüber Fayum, an der Ostseite des Nils, wurden auf einem koptischen Friedhof von einigen Arabern verschiedene Krüge gefunden, die antike Papyri enthielten. Sie gingen durch die Hände verschiedener Händler, bevor der Löwenanteil von A. Chester Beatty gekauft wurde, einem bekannten amerikanischen Sammler, der in England wohnte und Eigentümer einer wertvollen Kollektion von Handschriften war. Auch die Universität von Michigan kaufte einen kleineren Teil und weitere 15 Seiten landeten anderswo. Am 17. November 1931 veröffentlichte Sir Frederic Kenyon in "The Times" die Entdeckung, dass es sich um Teile von zwölf Manuskripten handle, die eine grosse Anzahl biblischer Bücher enthielten. Vom griechischen Alten Testament waren folgende Teile enthalten: Teile von 1. Mose (um 300 n. Chr.); 4. Mose und 5. Mose (1. Hälfte 2. Jhdt.); Fragmente von Jesaja und Jeremia (um 200); und eine fragmentarische Handschrift von Hesekiel, Daniel und Esther (1. Hälfte 3. Jhdt.). Aber vor allem die Teile des Neuen Testaments waren ausserordentlich wichtig: Ein Viertel einer Kopie (Kodebezeichnung P45) der vier Evangelien und der Apostelgeschichte (1. Hälfte 3. Jhdt.) war erhalten geblieben. Nachdem die Eigentümer die Schriften ausgetauscht hatten, konnte eine Handschrift (P46) mit fast allen Briefen von Paulus (Anfang 3. Jhdt.) zusammengestellt werden (der Hebräerbrief folgt darin sofort dem Römerbrief - ein Hinweis darauf, dass damals noch nicht an der Verfasserschaft des Paulus gezweifelt wurde). Schliesslich fand sich zwischen den Papyri noch eine Handschrift (P47) mit einem Drittel des Buches der Offenbarung aus dem Anfang des dritten Jahrhunderts.
Man kann sich vorstellen, wie wichtig dieser Fund war. Ausser den Hirten- und den allgemeinen Briefen waren alle neutestamentlichen Bücher vertreten, und das Alter unserer Textzeugen der griechischen Bibel wurde (für einzelne Teile) vom vierten Jahrundert auf den Anfang des zweiten Jahrhunderts zurückverlegt. Ausserdem erwiesen sich die Textstrukturen in P45 als weder völlig "alexandrinisch" noch völlig "westlich" (noch viel weniger "byzantinisch"), während Markus eine deutlich "cäsareanische" Struktur zeigte. P46 und 47 sind mehr "alexandrinisch". Diese Fundgrube war übrigens mit den Chester-Beatty-Papyri noch nicht erschöpft. Sehr interessant war die Entdeckung eines kleinen Fragments, welches Teile von Johannes 18,31-33.37 und 38 enthielt und um 125-130 geschrieben sein muss, also weniger als 30-35 Jahre, nachdem Johannes (wie man annimmt) sein Evangelium geschrieben hat! Wenn wir überlegen, dass in dieser (für jene Zeit) äusserst kurzen Periode das Evangelium offensichtlich schon Ägypten erreicht hatte, dann sehen wir, wie wichtig dieser Fund (bekannt als der John-Rylands-Papyrus 117-38 oder P52) ist, um die frühe Entstehung der Evangelien zu beweisen und die Spekulation der Bibelkritiker (die behaupteten, dass das Johannesevangelium erst um 160 oder 170 niedergeschrieben wurde) zurückzuweisen. Von den neueren Papyrus-Funden müssen wir vor allem die Bodmer-Papyri nennen.
Um 1956 kaufte die Bodmer-Bibliothek in Genf einen Papyrus-Codex des Johannesevangeliums (P66) auf, der ungefähr im Jahre 200 geschrieben wurde. Ein anderer Papyrus (P75) enthielt Teile von Lukas und Johannes, und P72 enthielt die Briefe von Petrus und Judas. Beide Papyri stammen etwa aus dem Jahre 200, während der viel jüngere P74 (aus dem 6. oder 7. Jahrhundert) die Apostelgeschichte und die allgemeinen Briefe enthält. Diese vielen Funde machten die alte Einteilung in Textstrukturen (die sich ja auf Handschriften aus dem 4. und späteren Jahrhunderten gründete) wenig brauchbar und verlangten ganz neue textkritische Analysen dieser alten Quellen. Die Ergebnisse sind schon (bzw. werden im Augenblick) in ganz neuen Ausgaben des griechischen Neuen Testaments verarbeitet (in denen aber leider teilweise auch bibelkritische Meinungen vertreten sind; vgl. Kap. 7 und 8).
Führend bei diesen Neubearbeitungen ist u.a. Kurt AJand, der frühere Mitredakteur (mit Erwin Nestle) der bekannten Nestle-Ausgabe. Er ist jetzt dabei, in Zusammenarbeit mit anderen Gelehrten eine ganz neue Ausgabe vorzubereiten. Aland ist der Leiter des Instituts für Neutestamentliche Textforschung der Universität Münster und hält einen Katalog mit allen neutestamentlichen Textzeugen auf dem Laufenden: eine Liste mit Dutzenden von Papyri, Hunderten von Unzialen, Tausenden von Minuskeln und Tausenden anderer Quellen (siehe unten), von denen weitaus die meisten auf Photokopien oder Mikrofilmen im Institut vorhanden sind! Alle Texte bekommen eine Kodebezeichnung: Die Papyri ein P mit Nummer, die Buchstaben oder eine Nummer mit einer Null davor, die Minuskeln bekommen eine normale Nummer.
Datum:
03.08.2005 Autor: Willem J. Glashouwer Quelle: Die Geschichte der Bibel