«Wir haben verlernt, das Leben als Gnade zu begreifen»
Irgendwie bleibt es kompliziert mit dem Glück.
Die Digitalisierung verspricht immer mehr davon, doch man spürt es kaum.
Der Journalist Tobias Haberl meint sogar, die Digitalisierung gehöre zu
den grossen Glücksverhinderern. Im Interview erklärt er, warum er das so
sieht und wie Glaube und Demut einen Ausweg aus der Dauerbeschallung
bieten.
Tobias Haberl (Bild: zvg)
pro Medienmagazin: Tobias Haberl, Sie stehen der Digitalisierung kritisch gegenüber und sprechen sich für ein Leben mit mehr echten Erfahrungen aus – warum?
Tobias Haberl: Ich bin ein ziemlich analoger Mensch. Viele Leute belächeln
mich, weil ich versuche, der Digitalisierung nicht zu viel Raum in
meinem Leben einzuräumen. Als Kind empfand ich mich als viel freier als
heute. Das liegt wohl auch daran, dass ich mich damals nicht so bedrängt
gefühlt habe. Das Leben ist heute ja eine ständige Gängelung durch
Mails, Push-up-Meldungen, Treuepunkte und Bonuskarten. Ständig wird
einem irgendwas aufgedrängt, womit man sich beschäftigen soll oder wie
man sein Leben noch besser machen kann. Das führt zu Stress und
Unfreiheit. Deshalb halte ich mir das lieber vom Leib. Vielleicht
vergesse ich manchmal, dass andere weniger unter diesen Dingen leiden,
trotzdem hoffe ich, manchen Menschen zeigen zu können, wie sie ihr Leben
reicher, tiefer, intensiver machen können.
Der
Corona-Lockdown hat ja viele Menschen dazu gebracht, über diese Dinge
nachzudenken. Glauben Sie, wir werden aus der Krise lernen?
Es
ist wohl noch zu früh, das zu beurteilen. Einerseits hat man gemerkt,
wie stark die meisten Menschen das analoge Leben vermisst haben:
geselliges Zusammensein, echte Begegnungen, Exzess, Dinge, die nonverbal
passieren, wenn man nebeneinander sitzt – durchaus auch in erotischem
Sinne. Andererseits sah man, wieviele Möglichkeiten im Digitalen
stecken, zum Beispiel im Home-Office. Mal sehen, was es mit unseren
Seelen macht, wenn sich unser Leben immer weiter virtualisiert und
entstofflicht, wenn wir uns noch weniger begegnen, berühren und
auseinandersetzen. Die Digitalisierung verspricht, das Leben immer
einfacher und kontrollierbarer zu machen.
Warum bleiben trotzdem so viele Menschen unzufrieden?
Ich
empfinde unsere Welt zunehmend als entzaubert, weil wir unser Leben in
die Hände von Tech-Experten gelegt haben, die es vor allem nach
technologischen Massstäben planen. Es geht viel darum, zu evaluieren und
quantifizieren. Existenzielle Erfahrungen aber lassen sich nicht
berechnen oder erzwingen. Manchmal scheint es, als würden uns die Apps,
mit denen wir unser Leben vermeintlich erleichtern, genau die Momente
nehmen, in denen wir uns als Menschen erfahren könnten. Wir berechnen
die Regenwahrscheinlichkeit in Fünf-Minuten-Intervallen, evaluieren
unsere Schlaf-Performance, beim Kauf von Sex-Spielzeug lockt eine
Orgasmus-Garantie. Digitale Plattformen bringen uns mit Leuten zusammen,
die das Gleiche denken und empfinden wie wir. Doch wer böse
Überraschungen verhindern möchte, verhindert gute gleich mit. Es kommt
mir vor, als würden wir die aufregende Erfahrung, einen Berg zu
besteigen, durch einen Helikopter-Flug auf den Gipfel ersetzen. Sehr
langweilig.
Was ist es dann, was Menschen glücklich macht?
Glück
entsteht dadurch, dass Schwierigkeiten überwunden werden, dass man sich
Dingen aussetzt, auch mal hilflos ist. Meine erste grosse Liebe war zehn
Jahre alt und hiess Francesca. Ich verbrachte die Sommerferien im Hotel
ihrer Eltern. Wir trafen uns jeden Abend auf der Hollywoodschaukel. Ich
hielt ihre Hand, sie lächelte, es war perfekt. Am Tag der Abreise gab
ich ihr einen Kuss auf die Wange, stieg ins Auto und versuchte 700
Kilometer lang nicht zu weinen. Obwohl wir kein Wort gewechselt haben,
gehören diese Stunden zu den gelungensten meines Lebens. Heute sässen
wir mit dem Handy auf der Hollywoodschaukel und würden Sätze
hineinsprechen, die wir uns übersetzen liessen – aber wären wir
glücklicher? Wir haben verlernt, das Leben als Gnade und Wundertüte zu
begreifen. Freieres, mündiges Leben ist möglich, wenn man Leidenschaft
und Faszination zulässt – und vielleicht auch Transzendenz und die
Möglichkeit des Scheiterns. Der Soziologe Hartmut Rosa sagt: «Die Welt
singt und spricht nicht dort zum Menschen, wo sie beherrscht wird,
sondern wo der Mensch für sie entbrennt.» Diese Leidenschaft kann einem
beim Lesen, beim Spazierengehen, beim Küssen, aber auch in der Religion
begegnen.
Ist es überhaupt noch zeitgemäss, da die Religion mit ins Spiel zu bringen?
Es
ist nicht von Belang, ob etwas zeitgemäss ist. Es geht darum, wahrhaftig
zu leben, egal, ob man in seine Zeit passt. Viele Menschen nehmen
christliche Botschaften und Riten nur noch als Geschichten aus alter
Zeit wahr. Aber wer nicht mehr auf die Knie geht, jegliche Transzendenz
entsorgt, Gott nicht kennt, wer nicht an das ewige Leben glaubt, ist auf
sich selbst zurückgeworfen. Die Folge ist, dass er sich selbst der
letzte Sinn ist, dass er ständig in Angst vor dem Ende lebt und
krampfhaft versucht, sein Leben einzigartig zu machen und vor allem:
aussehen zu lassen. Ich bin ein gläubiger Mensch und finde, die
schönsten Momente ergeben sich, wenn man ehrfürchtig zur Seite tritt
angesichts Erfahrungen, die grösser sind als man selbst. Im Gegensatz
dazu ist ein nur korrektes, gesundes, digital überwachtes Leben doch
traurig. «Religion ist Unterbrechung des Alltags», sagt der Theologe
Johann Baptist Metz. Solche Unterbrechungen werden schwierig, wenn man
ständig online ist und von Optionen und Angeboten bombardiert wird.
Nähme man den christlichen Jahresrhythmus mit seinen Tagen der Arbeit
und der Kontemplation wieder ernster, könnte man einen Ausweg aus der
Dauerbeschallung finden, die uns nicht glücklich macht.
Was könnten wir also tun, um glücklicher zu leben?
Ich
würde empfehlen, mehr Mut zu haben, sich auch mal Schrammen zu holen;
Mut, an Orte zu gehen, an denen man nicht weiss, was einen erwartet –
Orte im wörtlichen und übertragenen Sinn. Ich würde empfehlen, Bücher zu
lesen, die einen nicht nur bestätigen, sondern durcheinanderbringen.
Ich empfehle aber auch mehr Demut. Wir sollten uns nicht als letzten
Sinn betrachten. Demütig sein kann man nicht nur vor Gott, sondern auch
vor der Natur oder vor anderen Menschen. Und natürlich müssten wir
aufhören, ständig auf unser Handy zu schauen. Es macht uns blind und
taub für die Wunder dieser Welt.
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