Lebendige Kirchgemeinden

Wattenwil – Ergebnis von viel Aufbauarbeit

In dieser Serie stellen wir Pfarrerinnen und Pfarrern von besonders lebendigen Kirchgemeinden Fragen zum Geheimnis ihres «Erfolgs». Heute Paul Veraguth aus Wattenwil, der die Gemeinde bis zu seinem Abschied im Oktober 2014 prägte.

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Von links: Pfr. Samuel Hug, Pfr. Regula Scharnowski, Pfr. Paul Veraguth, Yvonne Veraguth, Pfr. Sarah Linder und Kirchgemeinderatspräsident Kurt Güngerich vor der Kirche Wattenwil bei seinem Abschied im Oktober 2014
Livenet: Paul Veraguth, weshalb gibt es in Ihrer Kirchgemeinde ein so intensives Gemeindeleben?
Paul Veraguth:
Das Gemeindeleben könnte auch intensiver sein. Ich würde aber sagen: Es gibt Vielfalt im Gottesdienst-, Gebets-, Senioren- und Kinderarbeitsbereich, es gibt gute Ansätze für weitere Entwicklungen im übergemeindlichen Bereich, in Erwachsenenbildung und Mitarbeiterförderung. Und es gibt schmerzliche Schwachstellen, zum Beispiel im Hauskreiswesen, in der Diakonie und in effizienter Evangelisation. Die Gründe für die positiven Entwicklungen sind vielschichtig. Eine solide Gebetsbasis mit drei Frühgebeten in der Woche spielen genauso eine Rolle wie gabenorientierte Leiterschaft und Mitarbeit (wir sind drei Pfarrpersonen in Teilzeit), eine segnende Haltung gegenüber dem Volk Gottes Israel und ein durchgehend bekennender Kirchenvorstand. Die letzten Gründe für Gnade kennt man nie, ausser dass es eben Gnade ist.

Was macht den Unterschied Ihrer Gemeinde zu eher traditionellen Kirchgemeinden aus?

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Paul Veraguth (Mitte) mit Kollege Samuel Hug (l.) und Kollegin Regula Scharnowski
Wir sind immer noch auf weiten Strecken traditionell. Wenn wir allerdings die Gottesdienststruktur betrachten, so ist der «jung-frisch-freche sieben-vor-sieben-Gottesdienst» für Traditionalisten eher ein Auswärtsspiel. Dass Leute einen Teil des Zehnten in die Kirchenkasse zahlen können und so Stellenprozente und Dienste ausserhalb des finanziellen Radius der Kirchgemeinde ermöglichen, bezeichnen manche als «freikirchliche Struktur». Auch den monatlichen Gottesdienst mit sieben Kirchen und Freikirchen im Tal, der den Leib Christi der Region fördert, empfinden Leute mit Zaundenken als unnötig. Ein weiteres untypisches Merkmal ist unsere unbürokratische Arbeitskultur, die zu Flexibilität und Spontaneität führt.

Welche Philosophie steckt hinter Ihrer Kirchgemeinde?
«Bete und arbeite». Das war schon bei Paulus so. «Gaben sind Aufgaben», ein befreiendes Prinzip, das auch eine verpflichtende Seite hat, oder, wie wir lieber sagen, vieler Ermutigung bedarf. «Rede, Herr, dein Knecht rennt schon» – nein, natürlich nicht, sondern «Hören, dann (allenfalls) rennen oder eben handeln.» «Ohne das Tuning des Heiligen Geistes gibt es Kakophonie, mit ihm gibt es rassigen Dixieland». Und weiter: «Klarheit im Wesentlichen, im Übrigen Freiheit und Vielfalt»: Die Reich-Gottes-Sicht muss nicht alles im eigenen Garten wachsen sehen. Alle unser Mitarbeiter bearbeiten daneben auch aussergemeindliche Felder. Schliesslich: «Beziehung statt Erziehung», ein Gebiet, wo wir erst in den Kinderschuhen stecken. Paulus sagte ja: «Ihr habt wenige Väter, dafür umso mehr Besserwisser und Moralisten», etwas frei übersetzt.

Wie motiviert Ihre Kirchgemeinde Leute zum aktiven Mitmachen und zur Übernahme von Verantwortung?
Niemand fühlt sich bei uns in einen Dienst oder in eine Mitmach-Ideologie gedrängt. Einige Gefässe sind aus Anliegen von Einzelpersonen entstanden, die von den Leitenden dann unterstützt wurden. Solche Plattformen zu schaffen, ist ein Kernelement unserer Arbeitsweise. Dabei spüren die Leute, dass sie Fehler machen und etwas ausprobieren dürfen. Und gleichzeitig haben wir bisher Initiativen aus der New-Age-Ecke nicht unterstützt; diese Geisterunterscheidung ist auch ein Wachstumsprinzip. Man kann es mit dem Bild vom Weinstock, den unfruchtbaren Schossen und der Förderung der fruchtbaren Reben vergleichen, Johannes 15. Öfters verhindern Harmoniebedürftigkeit, Menschenfurcht  und Konfliktunfähigkeit notwendige Einschränkungen.

Schildern Sie das Gottesdienst-Konzept in Ihrer Gemeinde.
Wir orientieren uns ein wenig an Radio SRF: Da gibt es zum Beispiel den klassischen Sender SRF 2, der von ungefähr 15% eingestellt wird. Nur wenige Menschen empfinden es als Heimspiel, wenn die Orgel braust. Sie kommt darum eher selten vor. Dafür haben wir Worship-Gottesdienste, Ländler-Gottesdienste und solche mit gospelartigem Outfit, alles eher im Mainstream von SRF 1 oder 3, wie auch eine stille Taizé-Gruppe, neben dem bereits erwähnten Jugendgottesdienst mit relativ viel Dezibel. So viel zum kulturellen Setting. Die innere Struktur reicht von traditionellem Predigtstil zu Formen breiterer Beteiligung von Mitarbeitern und lockeren, ins Workshoppige ausmündenden Freiheiten. Regelmässige «Kirche-in-Aktion»-Gottesdienste, meist an einem fünften Sonntag des Monats, öffnen Fenster und Türen zu Missionen und zu Regionen der Zweidrittelswelt.

Wie finden auch Anhänger traditioneller Angebote und Gottesdienste einen Platz in Ihrer Kirchgemeinde?
Weil die verschiedenen Gottesdienstformen im Monatsrhythmus beheimatet sind, wissen die Gemeindeglieder, in welchem Gottesdienst sie jeweils nicht überfordert oder gelangweilt sind. Ein Stück weit gibt es also Schichtwechsel, aber es gibt auch einen flexiblen Kern von Gemeindegliedern, denen der verschiedene Stallgeruch nichts ausmacht. Wer einen altehrwürdigen Gottesdienst besuchen will, kann das tun, aber nicht ohne vorher den Anzeiger zu studieren. Zu andern traditionellen Angeboten gehören der Bibelgesprächskreis und die Seniorengruppen.

Werden Sie von Anhängern einer traditioneller Kirchgemeinde oder aus der Öffentlichkeit zuweilen in Frage gestellt? Wie reagieren Sie darauf?
Seit dreissig Jahren ist bei uns eine langsame Mühle am Mahlen. Alle Hau-Ruck-Veränderungen führten zu genau solchen Konflikten, wie Ihre Frage sie impliziert. Es gab Leute, die demonstrativ den Gottesdienst verliessen. Oder eine Tür zuschlugen. Wenn solches geschieht oder die Presse aufgebracht wird wie vor einem Dutzend Jahren, dann bewirkt dies automatisch eine Entschleunigung. Der Sauerteig, wie Jesus sagt, wird in den ganzen Teig geknetet. Geknetet werden ist niemandes Hobby. Aber das Dranbleiben macht es aus, viele Gespräche, wobei einige immer auch zu besserem gegenseitigem Verständnis führen. Aber nicht alle.

Schildern Sie kurz ein persönliches Highlight in Ihrer Kirchgemeinde? Und begründen Sie, weshalb es ein Highlight war.
Die Sanduhr auf der Kanzel wurde von einem drogensüchtigen Teenager geklaut, der damit seiner Freundin ein Geburtstagsgeschenk machte. Viele Jahre später, nach seiner Umkehr, stand er eines Tages mit der Uhr wieder da, entschuldigte sich und gab sie uns zurück. Wir freuten uns natürlich noch mehr an dem Schaf, das der Gute Hirte zurückgewonnen hatte, als an der heimgekehrten Uhr, die uns nur daran erinnert, dass die Zeit nichts ist als verrinnender Sand. Gottes Gnade ist anders.

Zur Person

Vorname, Name: Paul Veraguth
Jahrgang: 1955
Pfarrer der Kirchgemeinde: Wattenwil-Forst von 1984 bis Oktober 2014
Motto der Kirchgemeinde: peregrini sumus («Pilger sind wir» – unser Kirchenstempel)

Zur Webseite:
Kirche Wattenwil

Zum Thema:
«Originell und unorthodox»: Pfr. Paul Veraguth nimmt Abschied nach 30 Jahren
Spenden und Freiwilligenarbeit: Wie reformierte Kirchgemeinden gedeihen

Datum: 14.11.2014
Autor: Paul Veraguth / Fritz Imhof
Quelle: Livenet

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