«Ich berate auch Leute, die eine Freikirche suchen»
Freikirchen kommen in den Medien oft unter die Räder. Welche Rolle spielen dabei die entsprechenden Beratungsstellen und ihre Experten, wie Georg Otto Schmid von der Informationsstelle Relinfo.ch? Die Livenet-Redaktoren Fritz Imhof und Florian Wüthrich haben Schmid zum Gespräch in seinem Büro in Rüti ZH getroffen.
Religionsexperte Georg Otto Schmid
Livenet: Georg Otto Schmid, welchen Platz nehmen die Freikirchen im Rahmen Ihrer Informationsarbeit bei Relinfo ein? Georg Otto Schmid: Im Jahr 2014 hatten wir 489 Anfragen zu Freikirchen oder Organisationen, die Freikirchen nahestehen. Das sind rund ein Viertel von insgesamt etwa 2'000 Anfragen. 2015 waren es ungefähr gleich viel, die definitiven Zahlen liegen aber noch nicht vor.
Was sind die Anliegen der Anrufer?
Zu den Anrufen gehörten Medienschaffende, Menschen, in deren Umfeld sich jemand einer Freikirche angeschlossen hatte und die sich nun Sorgen machen. Zunehmend kommen auch Anfragen von Menschen, die sich einer Freikirche anschliessen wollen und sich dazu Informationen beschaffen. Ich kläre dann mit ihnen ab, ob sie in eine Freikirche passen, ob sie einen freikirchennahen Glauben vertreten und wenn ja, in welche Freikirche sie am ehesten passen könnten. Es gibt auch Menschen, die sich wegen einer Partnerschaft den Eintritt in eine Freikirche überlegen, aber weltanschaulich an einem ganz anderen Ort stehen. Davon rate ich jeweils ab. Der Grund, weshalb Menschen aus einer Freikirche aussteigen, liegt oft darin, dass sie gar nie richtig dort hineinpassten. Keiner muss in allen Dingen mit der Gemeinde übereinstimmen, aber in den wesentlichen schon.
Ein Gottesdienst in einer Freikirche
Zudem kennen Freikirchen unterschiedliche Stile, zum Beispiel hinsichtlich der Verkündigung oder der Musik. Wenn sich jemand für eine Gemeinde interessiert, kläre ich mit ihm ab, ob auch der Stil für ihn stimmt. Wer Klavier und Geige liebt, ist zum Beispiel im Mitternachtsruf gut aufgehoben, aber nicht ein Liebhaber von Sakropop. Wer den Predigtstil von Leo Bigger liebt, dem kann der ICF Zürich empfohlen werden.
Zum Dritten muss sich ein Interessent der Frage stellen, ob er das Engagement aufbringen will, das eine freikirchliche Gemeinde erwartet. Diese Erwartungen können ganz unterschiedlich sein. Es macht keinen Sinn, wenn man von Anfang an Aussenseiter in der Gemeinde ist. Wer also mit seinem Glauben, seinem Stil und den Erwartungen übereinstimmt, ist am richtigen Ort.
In welche Freikirchen haben Sie im Laufe des letzten Jahres reingeschaut oder Gespräche mit Leitenden geführt?
Im Laufe des Jahres 2015 haben Vertreter unserer Infostelle unter anderem folgende Gemeinschaften besucht, respektive mit deren Leitenden diskutiert: EMK, FEG, FMG, Gospel Center Brugg, Heilsarmee Uster (Tätigkeit von Beat Schulthess), ICF, Living Church Rieden und Vineyard.
Ihr Vater und Vorgänger in der Leitung Ihrer Beratungsstelle schrieb kürzlich im Blog von Hugo Stamm, dass er zahlreiche Freunde im evangelischen und freikirchlichen Raum habe. Haben Sie auch Freunde in diesen Kreisen?
Den Freundeskreis meines Vaters betreut meine Mutter mit einem riesigen Korrespondenz-Aufwand. Dafür finden leider weder meine Frau noch ich selbst die nötige Zeit. Mitglieder von Freikirchen kenne ich aus meinem Familienkreis. Ein Cousin ist leitend in der EMK tätig, ein anderer im ICF, ein dritter in der FEG. Wenn wir uns sehen, sprechen wir aber kaum von den jeweiligen Kirchen. Ich trenne hier gerne das persönliche Gespräch von der Berufsarbeit. Etwa so wie ein Arzt nicht gerne über die Krankheiten seiner Freunde spricht, wenn er sie an einem Familienanlass trifft.
Was ist Ihnen an Freikirchen sympathisch, wo haben Sie Mühe?
Freikirchen leben einen bewussten Glauben sehr engagiert und setzen sich persönlich stark dafür ein. Sie leben ihn mit einem Feuer, das vorbildlich ist. Freikirchen haben dort ihre Stärke, wo es ums Beschreiben des eigenen Glaubens geht. Es gibt berührende Zeugnisse, wie der eigene Glaube erfahren wird und wie sie ein Stück Himmel schon hier erleben. Mir selbst als liberalem Christen fehlt diese Unbefangenheit. Freikirchler setzen Glauben auch in die Tat um. Sie sind für andere da, wie es etwa die Heilsarmee exemplarisch vorlebt. Ich habe zum Beispiel eine Seelsorgetagung mit Beat Schulthess erlebt. Sein Weltbild ist mir zwar fremd, aber sein Engagement für Menschen, die schon unzählige Therapien und Beratungen hinter sich haben, ohne Hilfe erfahren zu haben, beeindruckt mich. Er hört zu und sucht mit jenen einen Weg, die scheinbar keine Option mehr haben. Das ist typisch evangelikales Engagement.
Wenn ich gefragt werde, weshalb es in sozialen Berufen so viele Evangelikale gibt, und ob dahinter eine bewusste Missionsstrategie stecke, verneine ich das klar und sage den Journalisten: «Evangelikale wollen für die Menschen da sein, deshalb sind sie in den sozialen Berufen so stark verbreitet. Es geht ihnen bei der Berufswahl nicht darum, schnell reich zu werden.» Eine WOZ-Journalistin sah darin sogar Gemeinsamkeiten mit ihrem eigenen Umfeld, in dem man die Gewinnoptimierung als zentralen Wert unserer Zeit – gemeinsam mit den Freikirchen – in Frage stellt.
Wo sehen Sie Schwächen bei den Freikirchlern?
Schwächen zeigen Freikirchler, wenn sie den Glauben anderer beschreiben, zum Beispiel in freikirchlicher Literatur. Hier gibt es furchtbare Zerrbilder über andere Glaubensformen. Meine Frau, die selbst in einer freikirchlichen Minoritätskirche aufgewachsen ist, empfand das Schwarz-Weiss-Denken, das sie in manchen evangelikalen Veranstaltungen erlebt hatte, als abstossend und unchristlich. Viele Beratungsfälle im Zusammenhang mit Freikirchen beziehen sich darauf. Klar, junge Menschen tendieren zum Schwarz-Weiss-Denken. Sie können ihrem eigenen Vater sagen: «Du fährst in die Hölle, wenn du so weitermachst.»
Was sind Ihre Quellen für die Beschreibung von Freikirchen?
Wir benützen möglichst alle Quellen, soweit sie zugänglich und auch zeitlich zu bewältigen sind. Zum Beispiel die freikirchlichen Zeitschriften der Verbände, das ideaSpektrum, die Webseiten von Gemeinschaften oder auch Livenet. Nebst der zugänglichen Literatur sind es viele persönliche Gespräche mit Leitungspersonen und Mitgliedern von Freikirchen, und – wenn immer möglich – eigene Besuche bei den einzelnen Kirchen und freikirchennahen Werken.
Freikirchen haben besonders in den Boulevardmedien eine schlechte Presse. Teilen Sie diesen Eindruck?
Das sehe ich nicht so. Wenn ich die Tagespresse durchgehe, finde ich 50 Prozent negative und 50 Prozent positive und sehr positive Texte über Freikirchen, je nach Thema. Kritisiert werden Missionierungsstrategien und plakatives Auftreten. Positiv aufgenommen wird das Engagement vor Ort, insbesondere soziales Engagement – oder wenn Prominente sich einer Freikirche anschliessen. Über lokale Gemeindegründungen wird oft positiv berichtet und diskutiert. Auch über moderne Freikirchen wie ICF wird häufig positiv berichtet, wenn auch nicht mehr so euphorisch wie in den 90er-Jahren.
Weit kritischer werden Freikirchen dann wahrgenommen, wenn sie aktiv für ihren Glauben werben. Besonders negativ ist die Reaktion, wenn man missionarische Bemühungen gegenüber Schwächeren, zum Beispiel Kindern, wahrnimmt. Wenn zum Beispiel Gideons Bibeln an Schulkinder verteilen. Oder wenn der Verdacht aufkommt, Migranten zu missionieren, die sich in einer vulnerablen Position befinden. Daher fand auch die Frage der Pflegekinderplatzierung unlängst so grosse Aufmerksamkeit. Wenn ich mit Freikirchenvertretern zusammenkomme, empfehle ich ihnen, die Werbung für den Glauben auf Erwachsene zu konzentrieren, wie es auch in der Apostelgeschichte geschieht.
Sie speisen ihre Informationen auch mit Berichten von Ausgetretenen. Können Sie deren negativen persönlichen Erlebnisse abstrahieren?
Die ICF-Worship-Band in Aktion mit Songs aus ihrem neuen Album «Catching Fire» an der ICF Conference 2014
Ich stelle bei Ausgetretenen immer auch die Frage: Weshalb hat es nicht funktioniert? Weshalb fühlten sie sich unter Druck? Andere berichten, dass sie zwar in einer Freikirche aufgewachsen sind, aber einfach deren Glauben nicht mehr teilen. Nicht alle Anrufe sind freikirchenkritisch, es gibt auch Menschen, die mir ihr Zeugnis erzählen wollen.
Manchmal wird auch versucht, bei mir bewusst einen falschen Eindruck zu erzeugen. So behaupteten Dutzende Besucher von ICF Zürich nach der Umbenennung der G12-Kleingruppen in Smallgroups, dass die G12-Gruppen nun abgeschafft worden seien und wir unseren kritischen Artikel zu diesem Thema umgehend von unserer Website entfernen sollten. Dass die Smallgroups damals noch weitgehend den alten G12-Gruppen entsprachen und von unserer Kritik genauso betroffen waren, wurde verschwiegen. Da fühlte ich mich schon getäuscht.
Man vermisst in Artikeln über Freikirchen und freikirchliches Leben oft Differenzierungen und bekommt stattdessen Stereotype serviert. Dass sie «homophob» seien oder «die Bibel 1:1 umsetzen» wollen. Woran liegt das?
Boulevardmedien schreiben nicht Standardsprache, sondern Simple German. Was man der Redaktion in deutscher Standardsprache sagt, wird auf Simple German wiedergegeben. Wenn ich dann in deutscher Standardsprache beim Gegenlesen Korrekturen mache, wird das oft erneut umformuliert. Das Problem bei Simple German liegt darin, dass es eine Formulierung sein kann, die vom eigenen Sprachgebrauch der betreffenden Gemeinschaften recht weit weg ist. Wenn zum Beispiel die Formulierung, dass sie die Bibel 1:1 umsetzen wollen, gebraucht wird, so kann man das darauf zurückführen, dass Evangelikale sich selbst oft als «bibeltreu» bezeichnen. Freikirchliche Menschen erwähnen dieses Merkmal nicht selten als wichtigsten Unterschied etwa zu den Landeskirchen. Die Bibel steht ja auch in freikirchlichen Bekenntnissen ganz oben. Ich muss als Leiter der Informationsstelle oft in Gesprächen mit kirchlich wenig erfahrenen Medienleuten die Unterschiede von Freikirchen zu anderen Kirchen herausarbeiten. Zitiert wird dann gern das Pointierteste, das ich gesagt habe, während alle Relativierungen aussen vor bleiben, wodurch gelegentlich ein holzschnittartiger Eindruck entstehen kann.
Geht das nicht anders?
Es gibt im Kontakt religiöser Gemeinschaften untereinander verschiedene Umgangsformen. Die eine ist der interkonfessionelle Dialog, der enorm wichtig ist. Im Dialog betont man die Gemeinsamkeiten. Die Unterschiede treten in den Hintergrund. Die Konfessionskundler andererseits betonen die Unterschiede. Dabei kommen die Gemeinsamkeiten tendenziell zu kurz. Es ist eine Frage der Perspektive. Wir brauchen beides.
Bei Journalisten erlebe ich zum Teil sehr differenzierte Denker. Es gibt in kirchlichen und säkularen Medien Leute, die Religionswissenschaft oder Theologie studiert haben und sich da auskennen. Andere scheinen von jedem Vorwissen unbelastet. So wurde ich in letzter Zeit mehr als einmal gefragt, ob es im christlichen Raum, zum Beispiel bei den Evangelikalen, nicht auch eine Parallele zum Islamischen Staat gebe. Eine Art «christlichen IS». Dann ist in der Regel ein ausführlicheres Gespräch notwendig. Ich kann in dem Fall die Hauptanliegen der Freikirchen, zum Beispiel ihr Bibelverständnis, darstellen. Ich kann die Unterschiede zu den Landeskirchen zeigen, aber auch diejenigen etwa zum Salafismus.
Sie nehmen sich somit Zeit, diese Medienschaffenden im Bezug auf ihr Wissen über die Freikirchen zu informieren. Welche Erfahrungen machen Sie dabei?
Ja, genau, und da nehme ich mir auch so viel Zeit, wie der betreffende Journalist mir einräumt. Natürlich geht es meistens um einen Fokus, zum Beispiel Homosexualität. Ich versuche dann auch zu zeigen, wie verschiedene Freikirchen diese Frage unterschiedlich handhaben. Ich bedinge mir aus, dass mir die Zitate zum Gegenlesen vorgelegt werden, was meistens auch geschieht. Ich bemühe mich sodann, in der vorgegebenen Kürze Änderungen vorzuschlagen. Manchmal wird das Statement dann trotzdem wiederum verändert. Das geht oft hin und her. Oder man versucht, mir vorgegebene Aussagen in den Mund zu legen, was dann eher ärgerlich ist. Manchmal bin ich Stunden damit beschäftigt, eine Formulierung in der vorgegebenen Kürze und Sprache vorzuschlagen, und dann erscheint trotzdem die alte Fassung. Andere geben mir Bescheid, dass sie die Änderungen gerne übernehmen – und tun es auch.
Welche Konsequenz ziehen Sie gegenüber Journalisten, von denen Sie sich missbraucht fühlen müssten?
Sehr viel kann ich da nicht machen. Wenn eine von mir richtiggestellte Formulierung trotz intensiven Mailwechsels schliesslich doch nicht korrekt wiedergegeben wird, kann ich zumindest juristisch wenig tun. Journalistenschelte würde wenig bringen. Oft weiss ich auch nicht, ob die Verfremdung meiner Aussage beim Journalisten oder bei einem nachgelagerten Redaktor zustande kam. Gerade in Boulevard-Medien gehen oft verschiedene Leute nochmals über den Text und spitzen ihn zu. Nur in einem besonders gravierenen Fall publizierte ich eine Richtigstellung auf unserer Webseite. Wir werden unsere Webseite demnächst überarbeiten und sie dann auch häufiger dafür einsetzen, um klarzustellen, wie unsere Aussage lautete. Wer sich für die Originalzitate interessiert, wird sie dann auf unserer Webseite finden.
Erhalten Sie auch Fragen zu problematischen Vorgängen in landeskirchlichen Gemeinden und Werken? Wie erklären Sie sich, dass die Medien sich gemeinhin nicht dafür zu interessieren scheinen?
Ich erhalte oft Anfragen zu Problemen mit Pfarrerinnen und Pfarrern. Über Liberale oder Evangelikale. Von liberalen und von evangelikalen Gemeindegliedern. Zu allen möglichen Problemen, die in einer pluralistisch orientierten Kirche anfallen. Manchmal suche ich Verständnis zu wecken für die Situation, zuweilen hole ich mir weitere Informationen zum Fall ein, auch bei Betroffenen. In einem konkreten Fall mussten wir der Kirchenleitung eine massive Verfehlung einer Pfarrperson melden, was zur Bereinigung der Situation führte.
Medien berichten kritisch über Problematisches bei einzelnen Pfarrpersonen, zum Beispiel im Fall einer Debatte über eine Pfarrerin, die sich auf einer rechtslastigen Internetplattform geäussert hatte. Oder über Pfarramtsinhaber, die esoterische Beratungen anbieten. Wenn sich in reformierten Kreisen Dinge tun, die problematisch sein könnten, dann werden die Medien selbstverständlich auch hier aktiv. Oft ergeben sich dadurch gute Lösungen. Manchmal schiessen die Medien – kirchliche wie säkulare – auch über das Ziel hinaus, aber nichtsdestotrotz bleibt ihre Wächterfunktion wichtig, gerade im kirchlichen Umfeld.
Zur Person:
Georg Otto Schmid, geboren 1966 in Chur, hat Theologie und Religionswissenschaften in Zürich und Basel studiert. Er ist seit 1993 Mitarbeiter der Evangelischen Informationsstelle Kirchen-Sekten-Religionen in Rüti, seit 2014 deren Leiter. Die Informationsstelle wird getragen vom Verein Relinfo, der von den Reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz finanziell getragen wird. Dank dieser Unterstützung sind die Dienste unentgeltlich (unabhängig von der Konfession der ratsuchenden Person). In einer Eigendarstellung steht: «Die Informationsstelle (...) beobachtet und bespricht die religiöse Gegenwart mit ihrem verwirrend bunten Angebot und berät in allen Fragen, die sich im Zusammenleben mit kontroversen Glaubenshaltungen ergeben.»
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