Georg Schmid

Sektenexperte über Hexen und Esoterik

Im Frühjahr ist das Handbuch „Kirchen, Sekten, Religionen“ aus dem Theologischen Verlag Zürich in siebter Auflage erschienen. Neu zeichnen der Religionswissenschaftler Georg Schmid und sein Sohn Georg Otto Schmid als Herausgeber für das Standard-Nachschlagewerk für den deutschen Sprachraum, das von Oswald Eggenberger begründet wurde.

Im dritten Teil des Livenet-Gesprächs äussert sich Georg Schmid, Leiter der reformierten Informationsstelle und Professor an der Universität Zürich, zu Entwicklungen in der Esoterikszene und dem Hexen-Boom.

Livenet: Georg Schmid, Sie schreiben in der Einleitung zum Handbuch: „Logenspiritualität erfreut sich grösster Beliebtheit“. Was meinen Sie damit und mit Ihrer Feststellung, die Esoterik habe sich in den letzten Jahren insgesamt ‚versektet‘?
Georg Schmid: Die Loge ist eine elitäre Gruppe, die ihre Spiritualität unter sich pflegt und die die ‚würdigen‘ Leute aufnimmt. Diese Logenspiritualität schenkt auf der einen Seite Gemeinschaft und auch das Bewusstsein, zu einer Elite zu gehören. Sie offeriert in einer Zeit der unsicheren Selbstfindung neue Identität: Orden, Gewänder tragen dazu bei. Da hat sich die Esoterik zum Teil auch in Grüppchen und Zentren zurückgezogen.

Sie sehen also weniger Offenheit, weniger Sendungsbewusstsein –Esoteriker wollen nicht mehr für möglichst viele Menschen da sein, sondern suchen in einer gehobenen Gruppe zu pflegen, was sie für Wahrheit halten...
Wenn Sie die Esoterikmessen und –tage als Gradmesser für die Entwicklung heute nehmen, sehen Sie einerseits den grossen Trend zum Heilen. Alles was Richtung Heilung geht: Körperübungen, Farben, Kristalle, Körperpositionen, Klangschalen – was irgendwie auf den Körper wirkt, wird gepflegt und verkauft sich gut. Auf der anderen Seite treten logenartige Zentren in den Vordergrund, die Leute anziehen und ihnen auch Gemeinschaft schenken.

An der Messe in Zürich war Damanhur vertreten, eine utopische esoterische Gemeinschaft aus Norditalien, eine sehr spezielle Gruppe, eine Grossfamilie, die sich als Modell einer neuen Menschheit gibt. Esoterik ist heute also Sehnsucht nach elitärer Gemeinschaft – und Heilungsmarkt.

Zum Heilungsmarkt gehören Beratungsangebote: vor allem Parapsychologen, die ihre Erkenntnisse, ihre Zukunftsschau anbieten und dabei Hellsichtigkeit demonstrieren.

Bleiben die meisten Teilnehmer in der Gruppe, oder sind sie im Grunde heimatlos? Sind viele auf dem Sprung zu einer noch klareren Wahrheit, einem noch stärkeren Meister, einer noch faszinierenderen Meisterin?
Wenn Sie auf esoterischen Bahnen ‚Gott‘ suchen, suchen Sie ihn letztlich in sich selbst. Das Göttliche ist das, was alle Aspekte der Wirklichkeit miteinander verbindet. Nun finden aber viele Esoterikerinnen und Esoteriker irgendwie nicht zum göttlichen Kern in sich. Dann brauchen sie einen Meister. Dieser Meister lebt Gott pur. Dieser Gott, den ich in mir nicht spüre – er ist da präsent, im Meister, vor mir.

Für mich ist die Gruppenbindung in der Esoterik eigentlich ein Armutszeugnis. Die Esoterik hat als eine Allerweltsspiritualität, die das Göttliche in jedem Schilfhalm entdeckt, in jeder Blume, in jeder Vogelstimme – und dann natürlich auch in mir –, ein pantheistisches Grundgefühl (Gott in Allem). Dieses Gefühl ist für mich typischer als die konkrete Bindung an einen Guru.

In der Szene agieren aber auch Organisationen wie die Scientology, die extrem auf den Einzelnen setzen und seine Potenzen steigern wollen. Diese Gruppen stehen quer in der Landschaft. Haben Sie den Eindruck, dass die Scientology Anhänger verliert?
Wir haben in unserem Buch die Scientology bei den Psycho-Gruppen eingeordnet. Diese sind im Unterschied zu esoterischen Gemeinschaften weltanschaulich zurückhaltender. Sie gehen nicht unbedingt von einer Welt aus, die von Gott durchwirkt ist. Bei Scientology geht es um die Steigerung des eigenen geistigen Potentials. Die Grundidee ist ja, dass ich einen perfekten Computer in mir habe, meinen Geist, mein Hirn, dass dieser Computer aber falsch programmiert ist und ich dies ändern kann und soll.

Scientology hat einen sehr harten Stand, weil sie als ‚die Sekte‘ gilt in Mitteleuropa. In Deutschland wird die Bewegung noch härter kritisiert als bei uns. Der Grund dafür, dass sie in diesen üblen Ruf hineinrutschte (im Unterschied zu den USA), ist wohl ihre ungeheuer durchorganisierte Struktur. Es gibt ganze Bände von Organisationsanweisungen von Ron Hubbard, dem Begründer. Scientology ist so was wie ein Staat im Staat. Deutschland hat darauf natürlich hellhörig reagiert. Man sieht Scientology als eine totalitäre Organisation, die besonders überwacht werden muss. Ich kenne keine spirituelle, religiöse oder irgendwie geartete moderne Organisationen, die derartige Strukturen aufgebaut hat wie Scientology.

Zurück zur Esoterik insgesamt. Können Sie sich vorstellen, dass Esoterik eine schleichende Gefährdung wird für die Gesellschaft, falls viele Menschen das Wesentliche in kleinen Gruppen suchen? Wenn sie sich nur noch da ausleben und mitteilen, wenn sie, was sie beschäftigt, nicht mehr in die gesamte Gemeinschaft hineingeben, hat diese Gemeinschaft ein Problem. Gemeinsinn verfällt, wenn der Eine indianisch, der Zweite tibetanisch, der Dritte irgendwo pazifisch, der Vierte indisch ausgerichtet ist und seiner Gedankenwelt nachhängt.
Ich sehe in der Gruppenbindung nicht nur ein Problem der Esoterik, sondern des religiösen Marktes überhaupt. Sie haben diese Tendenz auch bei Freikirchen. Es gibt viele kleinere Gemeinschaften. Nicht mehr alle Gemeinschaften sind in Verbänden organisiert. Man trennt sich relativ leicht und gründet eine eigene Organisation. Sie haben übrigens dieselbe Tendenz im Buddhismus, wo ungeheuer viele Gruppen und Varianten entstehen. Bei Hindu-Gruppen war es immer schon so: Sie haben ein Konglomerat von Leuten, die bei ihrem Meister, auf ihre Weise Wahrheit suchen.

Und da würde ich die ‚grossen‘ Kirchen – sie werden ja kleiner – dagegensetzen. Sie versuchten bisher, Menschen verschiedener Mentalität und unterschiedlicher spiritueller Ausrichtung zusammenzubringen. Das wäre sehr wesentlich. Wenn Jeder sich in seinen kleinen Club zurückzieht, geschieht genau das, was Sie gesagt haben. Das Volksganze profitiert auch nicht mehr von diesen Formen der Spiritualität. Kirche ist ein Gespräch über alle Varianten mindestens christlicher Spiritualität. Und eine Begegnung verschiedener Jüngerinnen und Jünger Jesu. Und das ist die grosse Chance der Landeskirche, aber auch ihr grosses Problem: Wie bringt man Leute zusammen, die sehr verschieden glauben und denken?

Sie setzen die Vielfalt unter Christen auf die gleiche Stufe wie die multireligiöse Aufsplitterung. Aber insgesamt gibt es doch unter den Kirchen einen Grundkonsens, der auf die Bibel zurückgeht. Die Vielfalt unter den Christen dürfte darum dem Gemeinsinn weniger abträglich sein als der multireligiöse Dschungel...
Wenn Sie die Grundanliegen des christlichen Glaubens befragen, ist dieser Gemeinsinn natürlich mitgegeben. Paulus schreibt vom Sorgen der verschiedenen Glieder des Leibes von Christus füreinander und ringt selbst mit verschiedenen Strömungen. Da haben Sie ein Modell dafür, wie eigene Wege und Gemeinschaft zusammengehören. Beides muss da sein.

Nun haben Sie aber beispielsweise innerhalb der buddhistischen Strömungen in der Schweiz – es gibt ja schon unzählige Gruppen – auch den buddhistischen Dachverband, der sie zusammenzubinden sucht. Und er schafft es nicht. Auch im Christentum gibt es Gemeinschaften, die nirgends mitmachen. Vor allem bei Pfingstlern und Charismatikern, die aus jedem Verband ausgestiegen sind. Bei ihnen ist die Gefahr viel grösser, dass sie auf unserer Sektenskala nach oben rutschen und in einsamer Unfehlbarkeit ihre ‚Wahrheit‘ weiter verkünden. Der grössere Verband schützt auch die einzelne Gemeinschaft vor allzu sektenhaften Tendenzen.

Ein anderes Stichwort: die Hexe. Sie schreiben prägnant im Handbuch, dass sich da sehr viel Erwartungen, Sehnsüchte – und Mängelempfindungen – von Frauen treffen. Wie viele praktizierende Hexen gibt es im deutschsprachigen Raum?
Das Interesse an der Hexerei ist sehr gross. Das können Sie an den Esoterikmessen ablesen, wo die Hexenstände stark zugenommen haben. Hexenläden florieren, Hexenpublikationen sind in und Sie finden mehr und mehr Hexen-Foren im Internet.

Daraus konkrete Zahlen abzuleiten, ist sehr schwierig. Es gibt zwar Organisationen, die Mitglieder haben und Zahlen über Treffen herausgeben. Wenn Sie diese zusammenzählen, kommen Sie nicht auf sehr viele Leute. Doch Sie haben sehr viele Sympathisantinnen und Sympathisanten – und dann zahllose sozusagen freifliegende Hexen, die nirgends verbucht sind.

Das Interesse ist sehr gross. Gerade unter Mädchen. Immer mehr 14-19-jährige möchten Hexen sein. Sehen Sie sich die Foren an: Sehr viele junge Frauen melden sich da. Hexe ist heute so etwas wie ein Leitbild für die dynamische, junge, eigenständige, ein bisschen rebellische Dame...

...für die nicht angepasste Teenagerin, die weder Karriere (im herkömmlichen Sinn) machen will noch ein familiäres Ziel hat. Eher will sie Magie praktizieren, sich als Frau mit den eigenen inneren Kräften durchsetzen.
Wahrscheinlich verbinden sich im Bild der Hexe heute verschiedene Hoffnungen. Zum einen der Versuch, starke Frau zu sein. In der Hexe leben angeblich magische Kräfte aus der Urzeit. Die Hexe kann sehr vieles. Auch der Männerwelt die Stirn bieten. Sie ist nicht auf andere angewiesen. Sie kann beschwören.

Der Liebeszauber spielt eine grosse Rolle, auch der Schadenzauber. Das zu versuchen und zu merken, dass es effektiv wirkt, fasziniert. Wenn es tatsächlich klappt mit dem Französischlehrer, dass er am entscheidenden Tag krank wurde, als die Prüfung stattfinden sollte... Solche Spielchen werden ausprobiert.

Und vielleicht braucht frau starke Frauen als Leitbilder, wilde, starke Frauen, wenn die anderen Leitbilder einfach sehr brav oder angepasst oder Karrierefrauen sind. Und nur lieb sein ist auch kein verlockendes Leitbild für viele junge Leute.


Im Mittelalter sollen Hexen, so eine gängige These, gegen Unterdrückung aufgestanden sein. Aber heute haben wir in unseren Breitengraden kein starres Korsett mehr, kein biografisches Muster, in das die Frauen eingezwängt werden. Sie haben für ihre Lebensgestaltung sehr viele Möglichkeiten. Die Entfaltung der Persönlichkeit geschieht doch ohne Magie.

Was Hexen im ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Neuzeit waren, ist nach den Inquisitionsberichten schwer zu fassen. Von den heutigen haben wir ein klareres Bild, auch wenn es verschiedene Strömungen gibt: Viele Hexen wollen eine möglichst gefährliche, dynamische, magische Frau sein. Vor allem junge Menschen: Wenn sie gefährlich sind, sind sie wer. Wenn die Umwelt vor ihnen Angst hat, schenkt das Bedeutung! Das ist doch was! Man will nicht immer nur das Bubi, das Mädi sein.

Ich begreife, dass junge Menschen etwas völlig Alternatives zu leben versuchen. Und was leben sie heute, wenn sie nicht so sein möchten wie ihre Alten? Wie können sie sich deutlich absetzen? Hexe ist eine Variante, Gruftie eine andere. Es gibt in der Gegenwart einige Möglichkeiten auszubrechen – aber sie können auch bei fundamentalistischen Jugendgemeinden mitmachen, zum Beispiel dem katholischen Opus Dei. Irgendwie anders glauben als die Eltern – das ist doch was.

Wenn man den Glauben der Eltern betrachtet (ich schliesse mich jetzt in dieses Urteil mit ein), muss man als junger Mensch sagen: Der Glaube ist doch weitgehend weder Fisch noch Vogel. Der bringt doch gar nichts. Dem fehlt die Eindeutigkeit. Und der junge Mensch will etwas Eindeutiges. Eindeutig biblisch – nicht so larifari wie der Papa, nicht halbe Sachen, sondern eindeutig christlich. Oder eben eindeutig Hexe – nicht ein bisschen emanzipiert wie das Mami. Wer das Mami genau beobachtet, sieht, wie sie sich duckt, wie sie kuscht im entscheidenden Moment.

Der junge Mensch will etwas Eindeutiges. Und diese Eindeutigkeit können Sie besser leben, wenn Sie sich nicht an eine konkrete Zielvorgabe binden. Eindeutigkeit schenkt eigentlich nur der Traum. Was Hexe wirklich ist, lässt sich schwer sagen. Aber es ist ein schöner Traum...


...ein gefährlicher Traum. Wenn frau sich magisch entfaltet, kann es ganz schwierige Karrieren geben.

Ja, sie kann durch magische Praktiken in die Paranoia gleiten, wenn sie alle inneren Warnsignale überfährt.

Eine Bemerkung noch zur Beurteilung nicht nur der Hexerei: Wenn Sie das Handbuch durchgehen, empfehle ich, grundsätzlich bei allem, was da beschrieben ist, nicht damit zu rechnen, dass der Teufel seine Hände im Spiel hat. Ich hoffe, dass Sie den Klauen des Teufels nirgends in diesem Buch begegnen.

Ich glaube, dass dort, wo wir die absurdesten Gruppen besprechen – die Okkultisten, die bewusst den Teufel anrufen –, dass nicht einmal da der wirkliche Teufel erscheint. Der Teufel ist doch keine Kasperlfigur. Aber als eine Art Kasperlfigur für Erwachsene wird er sogar noch von den so genannten Satanisten anvisiert.

Der Satan der Bibel ist einerseits viel hilfloser als dieser schwarze Kobold. Auch er muss Gott gehorchen. Auf der anderen Seite ist das Drama, das er mit den Menschen spielt, viel ernsthafter. Der Teufel blödelt nicht.

Ich habe versucht, in keiner Gruppe den Schwefelgestank zu schnuppern in diesem Buch. Selbstverständlich werden sehr viele Gruppen beschrieben, die für die allermeisten Beteiligten absolut ungesund sind. Aber zu sagen, dass der Teufel in der und der Gruppe leibhaftig daherspaziert kommt – soviel Ehre wollte ich keiner Gruppe erweisen.

Erster Teil des Livenet-Gesprächs mit Georg Schmid über den Dalai Lama und den tibetischen Buddhismus: www.livenet.ch/www/index.php/D/article/180/8629/

Zweiter Teil des Livenet-Gesprächs über bewegte Charismatiker und Intoleranz bei den Reformierten: www.livenet.ch/www/index.php/D/article/154/8967/

Kurzartikel zum Handbuch ‚Kirchen, Sekten, Religionen‘: www.livenet.ch/www/index.php/D/article/161/8169/

Theologischer Verlag Zürich: www.tvz.ref.ch

Evangelische Informationsstelle: www.relinfo.ch

Datum: 20.08.2003
Autor: Peter Schmid

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