Im Charleston-Massaker verlor Pastor Anthony Thompson vor fünf Jahren seine Frau
Myra. Dies habe ihn zerrissen und er sah keinen Sinn mehr. Doch er vergab dem
Mörder und erklärt heute, wie wichtig die Vergebung für den inneren Frieden ist.
Anthony Thompson (Bild: Youtube)
Am Abend des 17. Juni 2015
leitete Myra Thompson eine Bibelstunde in der überwiegend afroamerikanischen «Emanuel
African Methodist Episcopal Church» in Charleston, South Carolina. Der junge weisse Dylann Roof
erschien ebenfalls und wurde willkommen geheissen. Gegen Ende der Stunde, als die
Gemeindemitglieder ihre Köpfe zum Gebet neigten, zog Roof eine Waffe und
eröffnete das Feuer.
Myra war eine der neun Menschen,
die ums Leben kamen. Ihr Mann Anthony vergab Roof trotz des enormen Verlusts. Diese Botschaft steht im Zentrum seines neuen Buches «Called to Forgive» («Berufen
zu vergeben»).
«Steh auf»
Myra war Lehrerin an einer
der schlimmsten Schulen in South Carolina gewesen, doch sie konnte den Respekt
der Kinder gewinnen; daneben diente sie als Pastorin. Auch an jenem
verhängnisvollen Abend, während Anthony anderweitig engagiert war und bereits nach Hause gegangen war.
«Ich erhielt einen Anruf, es
hiess, dass es in der Emanuel-Gemeinde eine Schiesserei gegeben hatte. Ich war
in fünf Minuten da und hoffte, dass meine Frau nicht in der Nähe gewesen war.» Als er ankam, war das ganze
Gebiet abgeriegelt. «Ein Polizist wies mir den Weg zu einem Hotel auf der anderen
Strassenseite, in das sie die Überlebenden gebracht hatten. Myra konnte ich
nicht finden.»
Dann hörte er, dass Myra
gestorben sei. Weinend rannte er nach draussen und fiel in einem Blumenbeet auf
die Knie. «In diesem Moment hörte ich eine Stimme, die sagte: 'Steh auf!'» Er schrie zu Gott, dass er nicht mehr wisse, was er tun soll. Unkontrolliert weinte er
kurz darauf auf dem Bürgersteig. Wieder hörte er die Stimme: «Steh auf!»
Öffentlich vergeben
Ihm sei dann klar geworden,
dass er der Gemeinde sagen muss, «dass ich trotz des Verlusts meiner Frau
weiterhin auf den Herrn vertrauen und an ihn glaube».
Kurz darauf wurde der Atentäter Dylann Roof gefasst. Thompson wollte eigentlich
nicht zur ersten Anhörung, ging dann aber doch. Als die Tochter eines anderen
Opfers, Ethel Lance, aufstand und Dylann vergab, wurde auch Anthony und seine
Familie eingeladen, zu sprechen. «Ich wollte eigentlich nicht und ich dachte,
dass ich nichts zu sagen hätte. Doch Gott zeigte mir, dass ich Dylann vergeben
sollte, so wie Gott mir vergeben hatte.»
Dann stand Anthony auf dem
Podium. «Ich erinnere mich, dass ich zu Dylann sprach, als ob ausser ihm und
mir niemand im Raum war. Ich sagte: 'Mein Sohn, ich vergebe dir, meine Familie
vergibt dir, und wir möchten, dass du die Gelegenheit ergreifst, Busse zu tun,
und dein Leben demjenigen schenkst, dem du am wichtigsten bist: Christus'.»
Frieden, der alles
Verständnis übersteigt
Gott habe ihm danach einen
absoluten Frieden gegeben. «Ich habe viele Male über den Frieden gepredigt, der
alles Verständnis übersteigt, und ich dachte, ich hätte ihn bereits. Aber er
kam an jenem Tag zu mir und ich habe ihn immer noch. Es ist der Frieden, den
Gott mir geschenkt hat, damit ich und meine Familie und meine Kirche
vorankommen können.»
Er habe in diesem Augenblick
auch gespürt, dass er eine neue Aufgabe habe – über die Vergebung zu lehren.
«Vorher dachte ich, dass es für mich keinen Sinn mehr gibt.» Aber Gott habe ihm die Wut
tatsächlich weggenommen.
Vergebung sei auch eine
Entscheidung. «Sie beruht nicht auf unseren Gefühlen oder Emotionen, denn ohne
Gott können wir dies nicht tun. Ich war nicht in der Lage, Dylann zu vergeben,
ohne dass Gott eingriff. Ich wollte nicht zu dieser Anhörung gehen, aber er
sagte mir, ich solle hingehen. Und ich wollte zuerst gar nicht sprechen.»
Niemand könne von sich aus
verzeihen. «Und wir müssen den Menschen vergeben, damit Gott uns verzeihen
kann.»
«Meine Seele wurde zerrissen»
Gegen Dylann ist die
Todesstrafe ausgesprochen worden, obschon dies keine der Opferfamilie wünschte.
«Ich glaube, Gott möchte, dass Dylann sein Leben noch ändert. Denn meine Frau
würde sich das sehr wünschen.»
Menschen werden durch das
Unrecht verletzt, das andere Menschen ihnen antun, sagt Thompson. «Ich wurde
verletzt, meine Seele wurde zerrissen und ich wusste nicht, was ich tun
sollte. Ich wollte einfach alles aufgeben.»
Der menschliche Instinkt sei,
Rache zu nehmen. «Aber je mehr wir planen, jemand anderem Schaden
zuzufügen, desto mehr Schaden bringen wir in das eigene Leben. Je mehr man am
Zorn festhält, desto unglücklicher wird man. Sogar Ärzte kommen zu der
Überzeugung, dass Unversöhnlichkeit die körperliche Gesundheit ruiniert.»
Kein Unterton mehr
Seit dieser Tragödie haben
sich die Dinge in Charlston geändert. Habe es früher rassistische Untertöne
gegeben, so sei die Gesellschaft heute geeint.
«Einmal hielt ich in einer
vorwiegend weissen Kirche einen Vortrag darüber, dass wir das Licht der Welt
sind und unsere Sünden bekennen und bereuen müssen. Eine weisse Frau in meinem
Alter stand auf und bekannte, dass sie eine Rassistin gewesen war, aber sie habe
das bereut, als sie hörte, dass wir Dylann vergeben haben.»
Die Menschen würden ihr Leben
überprüfen. «Wir versuchen, diese Mauern niederzureissen und damit aufzuhören, uns
gegenseitig über die Farbe unserer Haut zu definieren. Wir sehen uns in einem
anderen Licht, als Nachbarn. Das ist es, was in Charleston geschieht.»
«Machen Sie diesen Fehler
nicht»
Mit seinem Buch wolle er
erreichen, «dass die Menschen erkennen, dass, egal welche Tragödie ihnen
wiederfahren ist, sie nicht der menschlichen Natur folgen sollen. Machen Sie
nicht den Fehler zu glauben, dass Rache Ihnen Frieden bringen wird; das wird
sie nicht.»
Er rät zur Vergebung. «Wir
alle sind aufgerufen zu vergeben, mehr wegen uns selbst als wegen der Person, die
uns verletzt hat. Vergeben Sie dem anderen, damit Sie den Frieden und den Trost
Gottes empfangen können – den Frieden, den Sie brauchen, um Ihr Leben
weiterzuführen. Vergebung ist der einzige Weg, wie Sie ihn bekommen können.»
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