Zuversicht und
Hoffnung während der Coronazeit? Genau diesem Thema widmete Andreas Boppart,
Missionsleiter von Campus für Christus, ein Buch. Er lässt dabei verschiedene
Persönlichkeiten zu Wort kommen. Den Start macht Andrea Wegener. Sie
berichtet, wie sie die Coronakrise im Flüchtlingscamp Moria auf der Insel
Lesbos erlebt und was ihr dabei Hoffnung gibt.
Andrea Wegener (Bild: Claudia Dewald / GAiN)
Es hat gestern geregnet. Und wie so oft war die Kanalisation
überfordert: Vor dem Eingang zum Camp schwimmen in einer Pfütze aus Abwasser
Flöckchen von Exkrementen. Der Gestank lässt mich würgen, als ich möglichst
schnell hindurchstapfe. Der Polizist, der sonst mein Namensschild kontrollieren
würde, hält sich angeekelt seine Corona-Gesichtsmaske vor Mund und Nase und
winkt mich entnervt durch. Willkommen in Moria!
Das Leben in Lesbos
Seit eineinhalb Jahren arbeite ich im berühmt-berüchtigten
Hotspot Moria auf der Insel Lesbos am Rande Europas. Bis zu 20‘000 Menschen aus
rund 60 ethnischen Gruppen von Sierra Leone über Afghanistan bis Bangladesch
hausen hier auf einem Gelände, das ursprünglich für knapp 3'000 angelegt war,
die meisten illegal in Olivenhainen um das eigentliche Camp herum, ohne Strom
und manchmal mit einigen hundert Metern Fussweg zum nächsten Waschbecken. Viele
haben Fieber, psychische Probleme oder schlimme Hautausschläge, aber zu den
Ärzten auf dem Gelände kommt man inzwischen nur noch mit lebensbedrohlichen
Notfällen. Messerstechereien sind die übliche Methode, Konflikte zu klären;
gerade letzte Woche ist wieder einer der unbegleiteten Minderjährigen dabei
umgekommen. Die Polizei patrouilliert schon lange nicht mehr im Olivenhain;
dort herrscht das Recht des Stärkeren. Viele, gerade auch Familien mit kleinen
Kindern, leben in ständiger Anspannung. Sie wissen nicht, wie viele Monate oder
gar Jahre sie hier ausharren müssen, nur um am Ende vielleicht doch in ihre
von Terror und Armut zerfressene Heimat deportiert zu werden.
Hinter dem, was einige Sätze hier nur grob skizzieren,
stecken 20'000 Einzelschicksale: Die 13-jährige Afghanin, die den
Geschäftspartner ihres Vaters heiraten sollte und mit ihrer Mutter vor ihrem
Clan geflüchtet ist. Die sechsköpfige Familie, deren Ältester vor vier Jahren
beim Heimweg von der Schule von einer Mine zerrissen wurde und deren andere
Kinder seither keinen Unterricht mehr besucht haben – die Jüngste hat seitdem
kein Wort gesprochen. Der hochrangige Mitarbeiter eines Ministeriums, der um
sein Leben fürchten muss, seit sich eine neue Regierung an die Macht putschte.
Der Elfjährige, der mit seinem 16-jährigen Cousin nach Moria gekommen ist und
nun ohne diesen in der Schutzzone für unbegleitete Kinder unter 14 Jahren
untergekommen ist.
Die Dunkelheit und Perspektivlosigkeit sind mit Händen zu
greifen. Was anderswo Ausnahmezustand wäre, ist hier so normal, dass Krisen
ineinander verschwimmen. Was war vorletzte Woche noch einmal zuerst: Das Feuer,
bei dem ein Kind umkam und 200 Menschen obdachlos wurden, oder der Streit der
verfeindeten afghanischen Banden? Mit wie vielen Panikattacken haben meine
jungen Ehrenamtlichen es in dieser Woche unter den unbegleiteten Minderjährigen
zu tun gehabt und mit wie vielen Selbstmordversuchen unter den Frauen? Ist es
wirklich erst wenige Wochen her, dass Hilfsorganisationen unter Beschuss
gerieten und auch einige meiner Helferinnen von Einheimischen angegriffen
wurden? Es kommt mir ganz surreal weit weg vor.
Corona macht alles noch schwieriger
Andrea Wegener im Camp Moria
Und zu all dem kommt nun also auch noch Corona hinzu! Die
Aussicht, dass das Virus im Camp ankommen könnte, wo es sich angesichts der
Enge und der hygienischen Zustände ungehindert ausbreiten würde, während die
medizinische Versorgung auf der Insel und erst recht im Camp jetzt schon völlig
unzureichend ist, hat bei manchen Helfern und Camp-Bewohnern grosse Angst
ausgelöst. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, die Hochrisikogruppen zu
evakuieren und wenigstens notdürftige Quarantäne- und Isolierstationen
aufzubauen, während gleichzeitig immer mehr Helfer die Insel verlassen. Als
eine der wenigen Hilfsorganisationen, die noch in Moria aktiv sind und für
einen Rest Stabilität sorgen, gelten wir wohl als systemrelevant und dürfen
zur Arbeit gehen. Ansonsten herrscht eine strenge Ausgangssperre: Unsere
Freizeit verbringen wir in unseren Wohnungen. Fast alle Treffen und
Aktivitäten, die uns früher einen Ausgleich zur emotional aufreibenden Arbeit
geschaffen haben, sind nun unmöglich. Es ist anstrengend! Zu unserem «normalen»
Ausnahmezustand hat sich der globale Corona-Ausnahmezustand hinzugesellt.
«Was gibt dir Hoffnung?»
«Wie hältst du das nur aus?», fragen mich Freunde manchmal,
oder auch: «Was gibt dir Hoffnung?» Es stimmt: Ohne Hoffnung kann man hier
nicht lange überleben – auch als Helfer nicht. Es läge so nahe, die Koffer zu
packen oder zumindest innerlich aufzugeben, bitter oder zynisch zu werden oder
nur noch Dienst nach Vorschrift zu machen, ohne Liebe zu den Menschen.
Ein paar Dinge buchstabiere ich in den letzten anderthalb
Jahren immer wieder neu, die mir helfen, die Zuversicht aufrechtzuerhalten.
Ich bin immer wieder begeistert, wie tragfähig das
christliche Welt- und Menschenbild ist, das mir meine Eltern und die Gemeinde
meiner Kindheit vermittelt haben. Darin ist Platz für das Unordentliche, das
Dunkle, die Ungerechtigkeit, all das Hässliche und die Gewalt, die uns in Moria
zu schaffen machen – all das, was die Bewohner unseres Camps bei ihrer Flucht
hinter sich lassen wollten und das sie in ihren Herzen dann doch selbst
mitgebracht haben. Die Bibel behauptet nicht, dass wir Menschen im Grunde alle
eigentlich ganz gut sind und dass wir alle friedlich miteinander leben würden,
wenn es nur keinen religiösen Extremismus, keine patriarchalischen Strukturen,
westlichen Imperialismus oder – hier kann man jetzt das Feindbild seiner Wahl
einsetzen – gäbe.
Wir Menschen sind mit uns selbst, miteinander und mit der
Welt nicht im Reinen, weil wir mit unserem Schöpfer nicht im Reinen sind. Wir
sind Opfer und machen andere zu Opfern. Selbst als Helfende können wir uns
manchen Dynamiken von Ungleichbehandlung und Machtmissbrauch kaum entziehen.
Politische Lösungen sind wichtig und ich bin sehr dankbar für meine
Aktivistenfreunde, die sich für diese grossen Lösungen leidenschaftlich
einsetzen. Aber meine Hoffnung ist nicht, dass wir die Welt damit stückweise
immer besser machen, bis sie irgendwann ganz im Lot ist.
Seuchen wird es immer geben
Die Bibel ist ganz realistisch: Ungerechtigkeit,
Naturkatastrophen, Krieg, Armut und – obwohl uns die Corona-Krise so
unvorbereitet traf! – Seuchen wird es immer geben. Wir sind nicht die ersten,
die irgendwie damit umgehen müssen. Wie gut, dass es vor uns schon
Generationen von Menschen gab, die in schwierigen Situationen die Hoffnung
aufrechterhalten haben! Im Römerbrief gibt es einige Verse, die mich sehr
berühren. (Römer, Kapitel 8, Vers 18ff.)
Das klingt für moderne Ohren ein bisschen verschwurbelt und
es lohnt sich unbedingt, etwas länger auf diesen Versen herumzukauen. Aber
einige Gedanken stecken darin, die ich sehr hoffnungsvoll finde.
Dem Leben einen Anker verleihen
Diese Welt mit ihrem Schmerz hat nicht das letzte Wort. Es
geht hier nicht um eine billige Jenseitsvertröstung, sondern um eine Perspektive,
die unserem Leben im Hier und Jetzt einen Anker verleiht. Am Ende wird
tatsächlich alles gut werden und wir werden dabei sein! Menschen, die das
wissen, müssen nicht aus FOMO (Fear of missing out, also der Angst, etwas zu
verpassen) alles Schöne in dieses eine Leben packen, Leiden um jeden Preis
vermeiden und die Erfüllung eigener Wünsche zum Lebensinhalt machen.
Das ist ungemein befreiend – so befreiend übrigens, dass
hier und da vielleicht sogar noch ein Restchen Energie für die Nächstenliebe
übrig bleibt, zu der wir aufgefordert und befähigt sind. Und dabei müssen wir
gar nicht riesig denken. Mir ist bewusst: Ich werde Moria nicht retten und die
Welt erst recht nicht! Aber ich kann das tun, was vor meinen Füssen liegt. Ich
kann aus meiner Komfortzone heraus- und in die Exkrementenpfütze hineintreten
und heute mit einer kleinen handfesten Tat das Leben von einem einzelnen
Menschen ein kleines bisschen erträglicher machen.
Seufzen statt beten
Auch Seufzen ist laut Paulus, dem Autor des Römerbriefs, in
Ordnung. Dass wir uns zusammenreissen, alles nicht so tragisch nehmen und
Schmerz wegdrücken, ist nicht der Weg, den er hier vorschlägt. Es ist ein sehr
starkes, drastisches Bild von einer ganzen Welt, die in den Wehen liegt, sich
windet, seufzt und schreit – und wir mit ihr. Wir wollen, dass endlich, endlich
alles gut wird. Und das ist auch gut so! Gott hat diese Sehnsucht in uns
hineingelegt – wir sind «auf Hoffnung hin» gerettet.
Ebenso wenig müssen wir auf alles eine Antwort haben. «Wir
wissen nicht, was wir beten sollen», heisst es. Danke, Paulus! Wenn du schon
nicht wusstest, welche Lösungen du im Gebet Gott vorschlagen solltest, muss ich
das auch nicht! In einer höchst komplexen Situation, wie sie sich in Moria
darstellt, weiss ich meistens nicht, was eine gute Lösung wäre oder wo ich mit
dem Beten überhaupt anfangen soll. Dann ist dieses wortlose Seufzen in
Ordnung, oder der Schrei um Gottes Eingreifen, den Generationen von Gläubigen
schon vor mir ausgesprochen haben: Kyrie Eleison! Herr, erbarme dich! Ich habe
in den letzten Monaten die Psalmen neu entdeckt, die so viele Gedanken und
Emotionen in Worte fassen, die in mir ungeordnet durcheinanderpurzeln. Und die
dann doch auch immer wieder zu dem Ergebnis kommen: Gott ist Gott und ich kann
ihm vertrauen, auch wenn ich keine Antwort habe.
Hoffnung: Das sehen, was man nicht sieht
Schliesslich ganz wichtig: Hoffnung bedeutet, das zu sehen,
was man (noch) nicht sieht. Wenn alles schon klar wäre, bräuchte man ja keine
Hoffnung mehr – so würde ich es ausdrücken. Das finde ich in Moria
tatsächlich die spannendste Übung. Wenn ich mit Gottes Augen zu sehen beginne,
stellt sich ein ganz anderes Bild dar als überquellende Abwasserrohre und
messerschwingende Halbstarke.
Ich habe diesen furchtbaren Ort in den letzten eineinhalb
Jahren immer mehr lieben gelernt, je mehr ich seine Menschen lieben gelernt
habe: Ich habe ihr unglaubliches Durchhalten in ausserordentlich widrigen
Umständen bewundern gelernt. Ich schätze ihre Findigkeit, aus Nichts etwas zu
machen: Aus Europaletten und Planen bauen sie Brücken, stabile Unterkünfte
für ihre Familien und, ja, Kioske, Friseursalons und Restaurants! Und mich
berühren das Lächeln und die Schönheit so vieler Männer, Frauen und Kinder aus
aller Welt, die kein Trauma ganz zerstören konnte.
Gott hat jeden dieser Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen.
Zusammen bilden sie so viel von seiner Kreativität und Vielfalt ab, dass ich
staune! Er hat sie unendlich mehr lieb, als ich das je könnte. Und er hat
meinen Kollegen und mir die ehrenvolle Aufgabe gegeben, im Camp die Hände und
Füsse von Jesus zu sein. Gott begegnet den Bewohnern durch uns, so dass sie
ihn kennenlernen können. Das alles kann ich nur sehen, wenn ich mir von Gott
Augen der Hoffnung geben lasse. Auch wenn ich mir das im Moment nicht
vorstellen kann: Selbst Moria und alles Schwierige, was wir hier erleben, webt
er in seinen grossen Plan mit der Welt ein.
«Ich sehe was, was du nicht siehst …!», scheint Gott manchmal zu sagen. Und dann schenkt
er mir seine Sicht der Dinge und ich habe Hoffnung für den nächsten Tag. Auch
und gerade in Moria.
Zur Person:
Buchcover «Hoffnung»
Andrea Wegener, von Campus für Christus nach Lesbos
ausgesandt, ist die operative Leiterin der griechischen Hilfsorganisation
EuroRelief im Camp Moria. Sie spricht Englisch mit ihrem Team, Deutsch mit
Jesus und hofft, dass ihre Katze ihr schlechtes Griechisch versteht.
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