Im Laufe der Kirchengeschichte hat sich «Worship»
immer wieder verändert. Weiterentwickelt. Zurückbesonnen. Für beides ist es
höchste Zeit, damit christlich geprägte Musik nicht in einer Sackgasse
steckenbleibt – meint Hauke Burgarth.
Längere Zeit war es kaum möglich, in Gottesdiensten zu
singen. Die Regelungen wegen der Covid-19-Pandemie machten vieles unmöglich.
Inzwischen gehen mehr und mehr Kirchen und Gemeinden wieder zum gewohnten
Lobpreisprogramm über. Doch die professionelle Performance mancher Bands kann
kaum darüber hinwegtäuschen, dass Lobpreis vielerorts eingleisig geworden ist.
Die Melodien sind austauschbar und klingen meistens nach Soft-Pop à la
Hillsong. Die Form geht kaum über zwei Strophen, den Refrain und – ganz wichtig!
– eine Bridge hinaus. Auch inhaltlich wäre da sehr viel mehr möglich. Ist der
Wiedereinstieg nach den Corona-Beschränkungen nicht ein guter Zeitpunkt, hier
Raum für Neues zu schaffen?
Der Vergleich mit den Psalmen
Wenn solche Kritik geäussert wird, fusst sie immer wieder
auf Vergleichen mit den ersten Worship-Songs, den Psalmen der Bibel. Und das
ist auch keineswegs unfair, denn genau dieses Massnehmen am biblischen Vorbild
hat zusammen mit dem Orientieren am Hier und Heute immer wieder für neue
Entwicklungen gesorgt. Der Alttestamentler Michael J. Rhodes untersuchte
deshalb nach mehrmonatigem Psalmstudium die Worship-Charts der USA und verglich
beide inhaltlich miteinander.
Sein Vergleich stammt zwar aus den USA und vom September dieses Jahres, doch er
lässt sich ohne Weiteres auf die Situation im deutschsprachigen Europa von heute
übertragen.
In den Top 25 Worship-Songs der USA wird Gerechtigkeit nur ein
einziges Mal erwähnt. Im Gegensatz dazu kommt «Mischpat» als hebräischer
Begriff für Gerechtigkeit allein 65-mal in 33 Psalmen vor.
Arme und Armut kommen in den Top 25 überhaupt
nicht vor. Die Psalmen sprechen dagegen auf fast jeder Seite davon.
Witwen, Flüchtlinge und Unterdrückte kommen heute
ebenfalls nicht vor. Die Waise wird zweimal erwähnt, wobei sich mindestens
einmal auf geistliches Verwaist-sein bezieht.
Am schwierigsten ist es wohl, dass in den Top
25 der Worship-Hits nicht eine Frage an Gott gestellt wird. Moderne
Lobpreismusik fragt nicht. Die Psalmen dagegen sind voll von echten Fragen,
Unverständnis und den Bitten an Gott, dass er handeln möge.
Lobpreisleiter haben keine einfache Position. Viele
kritisieren an ihnen herum: Mal ist die Musik zu laut, mal ist sie zu leise,
mal zu englisch, mal zu deutsch. Doch was Rhodes anspricht, ist kein Jammern
über irgendwelche Formen. Ihm geht es ums Herz des Worship: Hat er noch seinen
Platz im gesamten Leben der Gläubigen? Oder ist er ein frommes Anhängsel im
Viervierteltakt geworden?
Worship könnte so viel mehr sein
Hauke Burgarth
Was kann, soll oder muss sich denn ändern? Welche neuen
Chancen ergeben sich in unseren jetzigen Gemeindesituationen?
Anbetung kann eine neue gemeinsame
Erfahrung werden. Die
Basis vieler Worship-Hits ist der klassische Love-Song. Es geht nur um Jesus
und mich. Deshalb schliesse ich auch die Augen und geniesse diesen intimen
Moment. Natürlich gehört das auch zum Worship, aber gerade nach fast zwei
Jahren Pandemie, in denen viele versucht haben, für sich allein Gott anzubeten,
ist deutlich geworden, welche Kraft darin liegt, Gott mit offenen Augen
gemeinsam anzubeten.
Zu Anbetung gehören Feiern und Klagen. Die
meisten Worship-Zeiten sind voller Freude, lebendig und feiern Gottes Gegenwart.
Gut so. Doch wenn das alles ist, entsteht eine ungute Dynamik. Der Philosoph
Peter Rollins spricht davon, dass Gemeinde so zu einem «geistlichen Crack-Haus»
wird, in dem man sich Sonntag für Sonntag den nächsten Schuss holt, um einen
gewissen Rausch erleben zu können. Das ist einseitig dargestellt – und kommt
der Wirklichkeit trotzdem sehr nah. Denn zum biblischen Lobpreis gehört das
Weinen mit den Leidenden und das Klagen mit denen, die in Not sind. Ehrlicher
Lobpreis hat Platz für beides, Feiern und Klagen.
Ganzheitliche Anbetung braucht mehr Raum
für Herz als für Perfektion. Eine
gewisse Qualität beim Lobpreis ist wohltuend. Doch dadurch, dass Kirchen und
Gemeinden ihre Musik an Organisationen wie Hillsong und andere «outgesourct»
haben, die in erster Linie nach reinen Marktmechanismen funktionieren, bleiben
viele Facetten der Anbetung auf der Strecke. Dadurch «verschlagert» der
Lobpreis und wird auf leichte, gefühlvolle Liebeslieder reduziert. Arme und
problembeladene Christen haben darin keinen Raum. «O Gott, ich danke dir!»
findet zusammen mit einer laut geäusserten Absichtserklärung Platz. Ein
zerknirschtes «O Gott, sei mir Sünder gnädig!» eher nicht. Das ist keine neue
Entwicklung, das gab es schon zur Zeit von Jesus, als Pharisäer und Zöllner
zusammen im Gottesdienst waren (Lukas Kapitel 18, Verse 9–14).
Aber es muss nicht so bleiben. Lobpreis kann auch ganzheitlich und von ganzem
Herzen stattfinden.
Die Corona-Chance
In vielerlei Hinsicht ist im Gemeindeleben gerade vom «neuen Normal» die Rede. Denn manches hat sich durch die Pandemie oder andere
Umstände geändert, manches ändert sich noch. Solche Einschnitte haben definitiv
ihre guten Seiten. Sie laden dazu ein, vieles einmal zu überdenken. Zum
Beispiel die Worship-Praxis. Wie kann sie unsere ganze Realität widerspiegeln?
Unseren Jubel über mögliche Gemeinschaft genauso wie unsere innere
Zerrissenheit und die offenen Fragen? Wie ist hier eine hohe Qualität möglich,
die gleichzeitig Menschen in den Hochs und Tiefs ihres Lebens mitnimmt vor
Gott? Vielleicht, indem Gemeinden ihre Worship-Leiter auch theologisch schulen,
statt sich in der Verkündigung an sie anzuhängen. Eine einfache Lösung ist hier
nicht in Sicht – aber die Chance auf Veränderung besteht.
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