«Nirgendwo findet man so viele Atheisten wie hier»
James Ros (Bild: Evangelical Focus)
Über 30 Jahre nach dem Fall der Mauer ist die spirituelle
Lage in Ostdeutschland noch deutlich anders als im Westen. James Ros startet mit
dem Projekt «KirchenThür» neue Gemeinden. Wir
bringen Auszüge aus einem Gespräch mit «Evangelical Focus».
Was sind die speziellen
Herausforderungen und die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland? James
Ros: «Einer der Hauptunterschiede liegt im Glauben.» Laut einer Studie der
Universität Chicago aus dem Jahr 2012 sagten 59,4 Prozent aller Ostdeutschen: 'Ich
glaube nicht an Gott und habe nie an ihn geglaubt.' Im Vergleich dazu teilen
in Westdeutschland nur 9,2 Prozent der Bevölkerung diese Ansicht.» Damit ist
Ostdeutschland wahrscheinlich die atheistischste Region der Welt.
Emotionale
und soziale Schwierigkeiten
Emotional sei es für die
Ostdeutschen schwieriger, sich an das «neue» System der vereinten
Bundesrepublik anzupassen. Ros: «Die, die in der Deutschen Demokratischen
Republik (DDR) geboren wurden, können nicht in das Land zurückkehren, in dem
sie geboren wurden. Es existiert nicht mehr.» Das führe zu einem Verlustgefühl
– es ist schwierig für viele Ostdeutsche, sich «zu Hause» zu fühlen.
Weiter sei es für Ostdeutsche
schwieriger, Vertrauen zu fassen: «In der DDR war es schwierig, wenn nicht
sogar gefährlich, jemandem zu vertrauen. Es herrschte eine allgemeine Skepsis
gegenüber den Behörden. Das könnte ein Grund dafür sein, dass sich heute
weniger Menschen in Ostdeutschland impfen lassen. Sie vertrauen nicht auf das,
was die Politiker uns sagen.»
Dazu kommt ein immer noch
vorhandenes Lohngefälle: Die Löhne sind im Allgemeinen im Osten immer noch
niedriger als im Westen.
«Keine
Samen unter der Oberfläche»
Ros war zwei Jahrzehnte Pastor
in Baden-Württemberg, bevor er einem Ruf nach Ostdeutschland folgte. «Allein in
diesem Bundesland ist die Zahl der wachsenden, gesunden Gemeinden, die von
starken Leitern geführt werden, grösser als in ganz Ostdeutschland.»
Das «lebendige,
gesunde kirchliche Umfeld» fehle, aus dem genügend neue Gemeinden hervorgehen
könnten, um die Bevölkerung angemessen zu erreichen. Ros: «Im Osten gibt es
fast keine geistlichen Wurzeln und Samen unter der Oberfläche. Das heisst, es
gibt zwar eine Offenheit für das Evangelium, aber die Menschen wissen so wenig
von der Bibel, dass die Jüngerschaft viel weiter unten beginnt als in
Westdeutschland.» Das bedeute aber nicht, dass das Christentum nicht-existent sei. Ros erinnert: «Bei dem Fall des Eisernen Vorhangs haben die 'Friedensgebete'
in Kirchen bekanntlich eine grosse Rolle gespielt.»
Gründungsarbeit
anspruchsvoller
Es gibt Gemeinden in
Ostdeutschland, aber: «Die Gemeinden, die wir im Allgemeinen haben, sind klein
und haben Mühe, den leitenden Pastor zu finanzieren. In dem Bundesland, in dem
ich lebe, erhält kein einziger Pastor ein volles Gehalt, obwohl mehrere von
ihnen vollzeitlich arbeiten.» Junge Leiter, die zur Gemeindegründung fähig
wären, gingen darum hauptsächlich zu bestehenden Gemeinden in den Westen, wo
sie z.B. als Hilfspastoren anfangen können. Ros: «Es erfordert ein grösseres
Mass an Glauben, um eine Führungsrolle bei der Gemeindegründung oder der
Wiederbelebung von Gemeinden im Osten zu übernehmen, da man sich mit
Fundraising oder anderen kreativen Methoden zur Finanzierung des eigenen
Dienstes beschäftigen muss.»
Gute
Nachricht für Ostdeutschland
Trotz – oder gerade – in einem
zunehmend polarisierten Kontext, wie er in Deutschland zu beobachten ist, ist
nach James Ros das Evangelium eine gute Nachricht für Ostdeutschland: «Angesichts
der wachsenden Polarisierung müssen wir uns daran erinnern, dass Jesus sehr
unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen Weltanschauungen in eine
Beziehung zu ihm eingeladen hat. Jetzt brauchen wir eine
Kirche, die für alle Menschen eine Heimat wird, egal welche Überzeugungen sie
haben mögen.»
Rassismus ist bekanntlich in Ostdeutschland ein Thema. Ros:«Die Gute
Nachricht ist entscheidend für die Versöhnung. Rassismus ist in Ostdeutschland
ein Thema. Wir müssen den Menschen helfen, den Gott der Bibel als den Gott
kennenzulernen, der alle Menschen liebt.»
Geistlichen Status Quo in Ostdeutschland verändern
James und Christel Ros sind
2013 als Gemeindegründer nach Thüringen gezogen. Sehr schnell wurde ihnen klar,
dass es nicht viel ändern würde, nur eine neue Gemeinde zu starten. «Um den
geistlichen Status Quo Ostdeutschlands zu verändern, braucht es eine Bewegung
von neuen Kirchen, in denen Glaube zeitgemäss, unkonventionell und
alltagsbezogen gelebt wird», erklärt er auf seiner Website.
Aus diesem Anliegen heraus ist
KirchenThür, ein «Starthelfer für neue Kirchen», entstanden. In Ostdeutschland
ist das Projekt «ConnectKirche Erfurt» bisher erfolgreich abgeschlossen. Momentan
am Laufen sind die KirchenThür Start-Ups die ConnectKirche Arnstadt, ConnectKirche
Eisenberg und K99 in Schwerin. In Vorbereitung ist ein Projekt in Greifswald. James
Ros ist mit «M4 Deutschland» in der Gemeindegründungsschulung und -strategie
«M4» engagiert, die systematische Gemeindegründung in diversen europäischen
Ländern einschliesslich der Schweiz betreibt.
Meghan und Harry sorgten mit einer «Netflix»-Doku für mächtig Wirbel. Die Autorin und «Woman Alive»-Chefredaktorin Tola Doll Fisher machte sich dazu...