Emad Botros, Professor für Altes Testament am Arab Baptist Theological Semiar in Beirut (Bild: Facebook)
Muslime wie Christen kennen und schätzen den Propheten
Jona bzw. Yunus. Tatsächlich hat der alttestamentliche Prophet viel zu einem
interreligiösen Dialog beizutragen, zur eigenen Sicht auf Barmherzigkeit und zu
respektvoller Mission.
Manches Glaubensgespräch zwischen Christen und
Muslimen wird schnell angriffig. Dann heisst es: «Ihr wart doch diejenigen, die
die Kreuzzüge veranstaltet haben» und «Ihr wart doch diejenigen, die am 11.
September die Twin Towers in New York gesprengt haben». Spätestens nach diesen
Äusserungen ist ein echtes Gespräch kaum noch möglich. Dabei gibt es eine ganze
Menge biblischer Themen und Personen, die in beiden Glaubensrichtungen bekannt
sind und geschätzt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist der Prophet Jona. Darauf weist Jayson Casper hin,
der Nahost-Korrespondent von «Christianity Today».
Gemeinsame Geschichten
Gut 20 Kilometer südlich von Beirut liegt der Strand
von Jieh. Genau hier soll ein Fisch der Legende nach den Propheten Jona ans
Land gespuckt haben, nachdem dieser erst vor Gott und seinem Auftrag weglief,
dann aber im Bauch des Fisches betete und zu Gott umkehrte. Die Geschichte des
widerspenstigen Propheten fasziniert Menschen seit Generationen, so ist es auch
nicht verwunderlich, dass sie in der Gegend des Strandes sowohl in einer 1'500
Jahre alten byzantinischen Kirche dargestellt wird als auch durch einen
Jona-Schrein in der benachbarten Moschee.
Im Islam ist Jona der einzige
namentlich genannte Prophet, der auch in der Bibel vorkommt; er ist im Koran
als Yunus bekannt. «Das häufigste Gebet der Muslime in Krisenzeiten ist das
Gebet des Jona», erklärt Emad Botros, Professor für Altes Testament am Arab
Baptist Theological Seminary in Beirut, die Inschrift des islamischen Schreins.
«Wir haben ein gemeinsames Erbe mit den Muslimen. Und was lässt sich besser
mitteilen als Geschichten?»
Ähnlich, aber nicht identisch
Der Koran erzählt die Geschichte Jonas nicht
zusammenhängend in einem Buch (bzw. einer Sure), sondern erwähnt den Propheten
an mehreren Stellen. Neben der sehr ähnlich erzählten Geschichte mit dem Fisch
gibt es auch deutliche Unterschiede: In der muslimischen Version wird Jona
nicht nach Ninive geschickt (obwohl dort, im heutigen Mossul, nach islamischer
Tradition das Grab Jonas liegt), sondern in eine unbenannte Grossstadt. Die
drei Tage im Fisch werden im Koran nicht erwähnt, dafür wird die Dunkelheit
dort unterstrichen. Ausserdem wird der Prophet mit einem geflohenen Sklaven
verglichen.
Manche Christen sprechen hier von Irrtümern oder gar
Verfälschungen. Botros lehnt diese Sichtweise ab. Er vergleicht sie stattdessen
mit der Erzählung von Abraham und Sara durch Paulus im Galaterbrief. «Der Koran
ist eine Predigt», unterstreicht Botros. «Er erzählt die Geschichten der
Propheten als Illustrationen genau wie ein Prediger in der Kirche… Als
christlicher Leser hilft es mir zu wissen, wie sie Jona verstehen und welche
Fragen er für sie aufwirft.»
Der Autor Mustafa Akyol ergänzt: «In vielen Fällen
spielt der Koran lediglich auf die Bibel an und geht davon aus, dass sie
bereits bekannt ist.» Das sei zwar nach den jahrhundertelangen Streitigkeiten
zwischen Islam und Christentum kaum mehr der Fall, doch der Autor betont, dass
gerade die Geschichte von Jona faszinierend genug sei, dass einige Muslime auch
heute noch eine Bibel zur Hand nehmen, um mehr darüber zu erfahren.
Lerneffekte
Milad al-Khatib ist Imam der sunnitischen Moschee am
Strand von Jieh. Er ist der Meinung, dass die Geschichte des Propheten für
jeden Menschen gilt – unabhängig von seiner Religion. «Du, ich und alle anderen
sind beauftragt, andere zu Gott zu rufen», sagt er den Besuchern der Moschee. «Wenn
ihr auf eine Mission geschickt werdet, dann weicht nicht von ihr ab.»
Die Physikerin und Theologin Ida Glaser ist
Mitbegründerin des Zentrums für muslimisch-christliche Studien in Oxford. Sie
glaubt nicht an eine Inspiration des Koran, aber sie unterstreicht: «Der Koran
fungiert für einen grossen Teil der Weltbevölkerung als massgeblicher Kommentar
zur Bibel. Aber christliche Gelehrte konsultieren jedes andere Buch – ausser
ihm.» Tatsächlich lernen Christen durchaus anhand der muslimischen Perspektive,
anderen ihren Glauben besser zu erklären – und gleichzeitig den eigenen Glauben
besser zu verstehen.
In der Bibel endet die Jonageschichte offen, Gott hat
nachgegeben, Jona nicht. Im Koran steht am Schluss das Eingeständnis des Propheten
im Gebet: «Ehre sei dir, denn ich habe gewiss Unrecht getan.» Dabei geht es
nicht darum zu fragen, welche Version die richtige ist, sondern darum, wie wir
reagiert hätten, wenn wir Gottes Barmherzigkeit so unerwartet erlebt hätten wie
Jona.
Das «Evangelium nach Jona»
Professor Botros hält fest, dass Jona ihn davon
überzeugt habe, seine muslimischen Nachbarn zu lieben. «Wie Jona hatte ich Wut
in meinem Herzen, aber auf Muslime», erklärt er. «Und anstatt mich Gott
zuzuwenden, bin ich weggelaufen.» Lange ging er dem Gespräch mit Muslimen aus
dem Weg. Er sah sie als Ursache seiner Probleme und Mission erschien ihm
undenkbar. Doch dann las er die Jonageschichte im Koran. Dort enthält sie einen
erstaunlichen Aufruf zur Toleranz: «Wenn Gott gewollt hätte, wären alle
Menschen auf der Erde gläubig geworden. Wollt ihr sie also zwingen?» Botros
erkannte dadurch, dass er niemanden zwang, an etwas zu glauben – aber dafür
verantwortlich war, das Gespräch zu suchen.
Seitdem denkt der Theologe immer wieder darüber nach,
wie deutlich im biblischen Buch Jona Gottes Anteilnahme und Sorge für alle Menschen
wird. Und er begrüsst Mohammeds Aufforderung, an Jona zu denken, wenn man in
Schwierigkeiten ist. Tatsächlich kümmert sich Gott in der Erzählung ja um Erwachsene
und Kinder, Gläubige und Ungläubige, sogar um Tiere. «Jona lehrt uns das
Erbarmen Gottes», hält Botros fest. «In Krisenzeiten rufen sowohl Christen als
auch Muslime zu Gott, und er erhört ihre Gebete. Lasst uns mit ihnen beten; das
zeigt, dass wir uns um sie kümmern.»
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