Die Tötung von Osama bin Laden, dem Anführer des Terror-Netzwerks al-Qaida, durch ein US-Sonderkommando hat weltweit heftige Diskussionen ausgelöst: Kann es – im Lichte der Bibel – rechtmässig sein, einen Menschen zu töten? Der Theologe Klaus Jürgen Diehl hat in der Kirchengeschichte geblättert.
«Du sollst nicht töten!» In geradezu lapidarer Kürze ermahnt Gott seine Geschöpfe, niemanden umzubringen (Die Bibel, 2. Mose, Kapitel 20, Vers 13). Verpflichtet dieses Gebot also dazu, das Leben von anderen unter keinen Umständen anzutasten? Wäre es so, dann stünde dieses Verständnis im Widerspruch zu anderen Aussagen der Bibel, in denen Gott die Vollstreckung der Todesstrafe (1. Mose, Kapitel 9, Vers 6), das Töten von Menschen in teils sehr grausamen Kriegen (5. Mose, Kapitel 20, Verse 11–18) oder auch das Schlachten von Opfertieren (3. Mose, Kapitel 1–7) anordnet. Tatsächlich müsste jedoch das 5. Gebot exakter mit «Du sollst nicht morden!» übersetzt werden. Das im Hebräischen verwendete Verb «ratsach» bezieht sich von seiner Wurzel her auf eine verbrecherische Tötungshandlung. Ist das Töten somit im Krieg, in Notwehr oder als Todesstrafe gerechtfertigt? Das könnte man so sehen – gäbe es nicht auch das Neue Testament.
Gott selbst rüstet ab …
Hatte Gott noch im Alten Testament seinem Volk immer wieder den Auftrag erteilt, diesen König oder jenen Volksstamm «mit der Schärfe des Schwertes» zu vernichten, vollzieht er mit der Verheissung des künftigen Messias eine Kehrtwende. Der neue Davidsohn soll die Sache Gottes als «Friedefürst» (Die Bibel, Jesaja, Kapitel 9, Vers 5) durchsetzen; für die messianische Heilszeit prophezeit Jesaja: «Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn daherkommt, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt» (Jesaja, Kapitel 9, Vers 4). Jesus nimmt diese Weissagung auf, indem er für das Gottesreich auf äussere Gewalt verzichtet und seinen Jüngern einschärft, lieber Gewalt zu erleiden als anzuwenden (Matthäusevangelium, Kapitel 5, Vers 38).
… aber ruft nicht zum Verzicht auf Militär auf
Allerdings haben weder Jesus noch später die Apostel die Christen ausdrücklich zum Verzicht auf den Militärdienst aufgerufen. Offensichtlich hatten sie gegen den Soldatenstand grundsätzlich nichts einzuwenden. Biblisch überliefert ist nur ein Wort Johannes des Täufers: «Tut niemandem Gewalt oder Unrecht und lasst euch genügen an eurem Sold!» (Lukasevangelium, Kapitel 3, Vers 14), lautet seine Antwort auf die Frage von Soldaten «Was sollen wir tun?». Bereits hier wird also schon unterschieden zwischen dem Reich Gottes und der Ordnung in der (sichtbaren) Welt – Jahrhunderte später veranschaulicht durch Martin Luther mit seiner «Zwei-Reiche-Lehre».
Die friedensbewegte frühe Kirche
Getreu der Ermahnung des Apostels Paulus, der staatlichen Obrigkeit untertan zu sein (Römerbrief, Kapitel 13, Vers 1), waren die ersten Christen darauf bedacht, sich im Römischen Reich als loyale Staatsbürger zu bewähren. Dennoch sprachen sich die Kirchenväter mehrheitlich gegen den Kriegsdienst aus. So schrieb etwa der Kirchenvater Origines 248 n. Chr.: «Wir sind gekommen, den Ermahnungen Jesu gehorsam zu sein, die Schwerter zu zerbrechen … Wir leisten dem Kaiser in unserer geistlichen Waffenrüstung durch unsere Gebete Hilfe.» Und in einer ägyptischen Kirchenordnung aus jener Zeit steht: «Wer ein Amt übernommen hat, das ihm die Vollmacht zu töten gibt oder wer Soldat ist, soll nicht in die Gemeinde aufgenommen werden.» Soldaten, die sich bekehrten, wurden aber trotzdem nicht genötigt, den Militärdienst zu quittieren.
Der Sündenfall nach der «Konstantinischen Wende»
Kaiser Konstantin
Nach der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion unter Kaiser Konstantin 313 n. Chr. kam es allerdings bald zu jener für die Kirche unseligen Verknüpfung von weltlicher und geistlicher Macht, die als «Bündnis von Thron und Altar» bis Anfang des 20. Jahrhunderts fortbestand. Schon nach wenigen Jahren war der Kriegsdienst auch für Christen Pflicht. Augustinus (354–430 n.Chr.) lieferte die theologische Rechtfertigung für den Krieg und die Teilnahme von Christen: Er sah für sie keinen Grund mehr, sich vom Kriegsdienst fernzuhalten.
Augustinus‘ Lehre vom gerechten Krieg
Allerdings war damit kein «Persilschein» für Kriege jeder Art gemeint. Augustinus und Jahrhunderte später Thomas von Aquin (1225–1274) formulierten Kriterien für einen «gerechten Krieg»: Er musste dem Frieden dienen und diesen wiederherstellen. Er durfte nicht mit negativen Absichten geführt werden, sondern musste sich gegen tatsächlich Begangenes, dem Feind «vorzuwerfendes» Unrecht richten, das wegen dessen feindlichen Verhaltens fortbestand. Ausserdem musste ein «gerechter Krieg» nur von einer legitimen Autorität wie dem Kaiser angeordnet werden und durfte nicht die Vernichtung des Gegners zum Ziel haben.
Augustinus.
Von diesem hohen Anspruch blieb im Lauf der Jahrhunderte nicht mehr viel übrig. Bald schon beteiligte sich die Kirche an Kriegen, die alles andere als «gerecht» waren. Im Namen Gottes und mit dem Segen der Kirche wurden Sachsen und Slawen zwangsbekehrt, Jerusalem und das Heilige Land mit blutigen Gemetzeln von Muslimen und Juden «gesäubert», die Ureinwohner Lateinamerikas unterworfen. Nach den Religionskriegen zwischen katholischem Kaiser und lutherischen Fürsten lag halb Europa in Schutt und Asche.
So zieht sich nach der «Konstantinischen Wende» eine lange Blutspur durch die Kirchengeschichte. Immerhin finden sich auch in diesen gewalterfüllten Zeiten kleine christliche Gemeinschaften, die mit ihrem Pazifismus (Ablehnung von Krieg) dem Friedefürsten Jesus kompromisslos dienen wollten, etwa Waldenser, Mennoniten (ihr Begründer ist Menno Simons), Hutterer und Quäker. Sie wurden nicht selten für ihre radikale Einstellung wiederum selbst verfolgt.
Luther rechtfertigte Krieg und Kriegsdienst
Martin Luther (1483–1546) hingegen rechtfertigte Krieg und Kriegsdienst. Auf die Frage seines Freundes, des Söldnerführers Assa von Kram, «ob Kriegsleute in seligem Stande sein können» (so der Titel einer Schrift von 1526), schreibt ihm Luther: «Ebenso muss man auch dem Amt des Soldaten oder des Schwertes mit männlichen Augen zusehen, warum es so tötet und grausam ist. Dann wird es selber beweisen, dass es ein durch und durch göttliches Amt ist und für die Welt so nötig und nützlich wie Essen und Trinken oder sonst ein anderes Tun. Dass aber einige dieses Amt missbrauchen, ohne Grund töten und schlagen, aus lauter Mutwillen, ist nicht die Schuld des Amtes, sondern der Person.»
Allerdings räumte Luther dem einzelnen Christen das Recht ein, die Kriegsentscheidung seiner Obrigkeit kritisch zu überprüfen, ihr notfalls den Gehorsam zu verweigern, die dafür verhängte Strafe dann aber auch auf sich zu nehmen. Damit bejahte Luther, der ansonsten jede Auflehnung gegen die Obrigkeit scharf ablehnte, eine Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen.
Wann Gewalt nötig sein kann – und wann nicht
Zwar gestand Luther der Obrigkeit prinzipiell das Recht zur Kriegsführung zu und bejahte auch die Todesstrafe, doch findet die Macht des Staates – so der Reformator – an den Massstäben des Reiches Gottes ihre Grenze. So erklärt er in seiner «Zwei-Reiche-Lehre» die Bergpredigt Jesu für alle Christen als verbindlich: Jesus fordere von seinen Jüngern Feindesliebe, Vergebung und Gewaltlosigkeit untereinander, aber auch gegen Ungläubige, da man niemanden mit Gewalt zum rechten Glauben zwingen dürfe. Christen sollten daher lieber Unrecht erleiden als Unrecht tun – und darauf verzichten, ihren Glauben mit Gewalt zu verteidigen.
Da sie jedoch mit Nichtchristen in einer sündigen Welt zusammenlebten, müssten sie Gewalt bejahen – nicht für ihr eigenes Überleben, sondern zum Schutz der Schwachen und zur Bestrafung der Rechtsbrecher. Dies sei die Aufgabe der weltlichen Obrigkeit, durch die Gott die Welt bis zu ihrem Ende bewahre.
Abgesehen von den Friedenskirchen wie den Mennoniten haben die Kirchen jahrhundertelang das Recht des Staates anerkannt, auch von Christen den Kriegsdienst einzufordern. So segnete die Kirche noch im 1. Weltkrieg die Waffen und die Soldaten zogen mit dem Motto «Gott mit uns» auf ihren Koppelschlössern begeistert in den Krieg. Erst das Fiasko des 1. Weltkrieges und das nationalsozialistische Unrechtsregime brachten Christen dazu, die Grenzen des eigenen Gehorsams zu überdenken.
Bonhoeffer: «Dem Rad selbst in die Speichen fallen» …
Besonders der Theologe der «Bekennenden Kirche», Dietrich Bonhoeffer (1906–1945), hat diese Fragen radikal durchdacht und nach ethisch vertretbaren Antworten gesucht. Bereits als junger Theologe sprach er sich für absolute Gewaltlosigkeit aus. Schon 1934 forderte er ein großes ökumenisches Konzil mit dem Ziel, «dass die Kirche ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet».
Er begründete seinen strikten Gewaltverzicht dabei streng christologisch (an Jesus orientiert): Christen «können nicht die Waffen gegeneinander richten, weil sie wissen, dass sie damit die Waffen auf Christus selbst richten». Doch die jungen Theologen, mit denen Bonhoeffer im Predigerseminar der «Bekennenden Kirche» zusammenlebte, teilten die pazifistische Haltung ihres Mentors nicht: Sie hatten kein Problem damit, dem «Führer» Adolf Hitler als Soldaten zu dienen und in den Krieg zu ziehen.
Bonhoeffer dagegen entzog sich der drohenden Einberufung zur Wehrmacht, indem er sich als Informant in der Spionage-Abwehr verpflichtete. Dadurch kam er in Verbindung zur Widerstandsbewegung, der er sich (mutmasslich) 1938 anschloss. Als die Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes immer offensichtlicher wurden, drängte sich ihm und den Widerständlern des späteren «20. Juli» die Frage auf, ob man Hitler nicht gewaltsam beseitigen müsse, um dem Krieg und der systematischen Vernichtung der Juden ein Ende zu setzen.
Schon 1934 hatte Bonhoeffer gemahnt, die Kirche müsse angesichts der immer offensichtlicher werdenden staatlichen Willkür gegen die Juden «nicht nur die Opfer unter dem Rad verbinden, sondern auch dem Rad selbst in die Speichen fallen». Bonhoeffer litt darunter, dass sich die «Bekennende Kirche» zwar mutig gegen ihre staatliche Gleichschaltung zur Wehr setzte, angesichts der Judenvernichtung jedoch stumm blieb.
So sah sich der radikale Pazifist Bonhoeffer unweigerlich vor die Entscheidung gestellt, entweder weiterhin konsequent am Gebot «Du sollst nicht töten!» festzuhalten und dadurch mitschuldig an den Opfern der Naziherrschaft zu werden – oder aber sich an einem Tyrannenmord zu beteiligen. Zwar bleibe auch dieser ein Mord – und bedeute damit Schuld vor Gott. Doch letztlich werde derjenige, der dem Treiben Hitlers tatenlos zusehe und die Opfer ihrem Schicksal überlasse, in noch höherem, unverantwortlichem Masse schuldig.
… und die Tötung Hitlers in Angriff nehmen
Daher entschied sich Bonhoeffer zur Unterstützung eines Attentats auf Hitler als einem «Akt der Notwehr» und vertraute sich und seine Mittäter der Gnade Gottes an. Während seiner Haftzeit in Berlin-Tegel – Bonhoeffer wurde im April 1943, ein Jahr vor dem Anschlag auf Hitler, verhaftet – verdeutlichte er einem Mithäftling gegenüber noch einmal seine Haltung: «Wenn ein Wahnsinniger auf dem Kurfürstendamm sein Auto über den Gehweg steuert, so kann ich als Pastor nicht nur die Toten beerdigen und die Angehörigen trösten; ich muss hinzuspringen und den Fahrer vom Steuer reissen.»
Wann immer sich die Kirche zu sehr mit dem Staat und der Obrigkeit verbündet hat, ist sie der Gefahr erlegen Jesu Friedens-Botschaft zu verraten und stattdessen Gewalt zu legitimieren. Das Spannungsfeld zwischen Töten und Verhindern von weiterer Gewalt muss sie jeden Tag aufs Neue aushalten. Dass sich die Kirche zur Tötung von Osama bin Laden nicht allzu lautstark geäußert hat, wird ihre Glaubwürdigkeit als verantwortungsbewusste und zugleich friedliebende Gemeinde stärken.
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