Vor fast zehn Jahren schoss ihr Sohn auf zehn amische Kinder, von denen fünf starben. Nach dem furchtbaren Verbrechen erwartete Terri Roberts Wut und den Ruf nach Vergeltung. Was sie stattdessen erlebte, heilte ein ganzes Dorf. Hier ihr sehr persönlicher Bericht.
Terri Roberts
Am 1. Oktober 2006 waren unser Sohn Charlie, seine Frau Marie und ihre Kinder bei uns zu Besuch. Als wir uns verabschiedeten, schien Charlie stiller als sonst. Es war das letzte Mal, dass ich ihn lebendig sah.
Am nächsten Tag hörte ich während meiner Arbeitspause Sirenen. Ich fragte mich, was das in unserem ruhigen Dorf bedeuten sollte. Kurz darauf rief mein Mann Chuck an und sagte mir, ich sollte sofort zu Charlies Haus kommen. Angst packte mich. Die Fahrt dauerte nur zehn Minuten, aber ich hörte am Radio, dass es in einer nahe gelegenen amischen Schule eine Schiesserei gegeben habe. Als ich zu seinem Haus kam, drängte ich mich durch eine Menge von Polizisten und Reportern. Ich fragte einen Beamten, ob mein Sohn lebt. «Nein, Ma'am», antwortete er ernst. Ich wandte mich an meinen Mann. Mit Schmerzen in den Augen und erstickter Stimme sagte er: «Es war Charlie. Er hat diese Mädchen erschossen.»
Ich erinnere mich nur, dass ich zu Boden fiel und verkrümmt und stöhnend da lag. Später wurden wir von Polizisten heimgefahren. Mein Mann ist ein pensionierter Polizeioffizier. Ich kann mir seine Gefühle nicht vorstellen, wie er nun wie ein Verbrecher selbst nach Hause eskortiert wurde.
Wut, Vorwürfe, Selbstanklage
Amische Frauen
Chuck sass am Tisch und weinte hemmungslos. Ich hatte meinen starken Mann noch nie so in Tränen gesehen. Und ich hatte keine Antworten. Selbst nachdem mir die Polizei berichtete, was geschehen war, weigerte ich mich, die Realität anzuerkennen: Mein geliebter Sohn war mit einem Arsenal von Waffen in die Schule marschiert, verbarrikadierte die Türen und Fenster, fesselte 10 Mädchen im Alter von 6 – 13 Jahren, schoss auf sie und tötete sich dann selbst. 5 der Mädchen starben.
Später mischte sich die Wut in meinen Schmerz. «Wo warst du, Gott?», schrie es in meinem Kopf. «Wie konntest du das zulassen?» Dazu kamen die Selbstzweifel. Was für eine Mutter war ich gewesen, deren Sohn eine solch unvorstellbare Tat zustande brachte?
Das erste Wunder
Wir sassen am Tisch und schluchzten. Da sah ich durchs Fenster eine schwarze, hagere Figur auf unser Haus zukommen. Es war unser Nachbar Henry Stoltzfoos. Wir kannten ihn seit Jahren, er ist Amischer und war in seinem förmlichen Besuchsanzug mit dem breiten Strohhut gekleidet. Er klopfte.
Henry hatte Freunde und Verwandte, die durch die Hand unseres Sohnes in diesem Schulhaus ums Leben gekommen waren. Wie alle Amische hatte er jeden Grund, uns zu hassen.
Aber als ich die Tür öffnete, war Henry nicht böse. Sein Gesicht war von Mitleid erfüllt. Er ging zu Chuck rüber, legte ihm die Hand auf die Schulter – und die ersten Worte, die ich hörte, nahmen mit den Atem: «Roberts, wir lieben dich. Das war nicht deine Tat. Du darfst dir keine Vorwürfe machen!» Mehr als eine Stunde lang stand Henry bei meinem Mann und sprach ihm Trost zu. Chuck erklärte, dass wir jetzt hier wegziehen müssten – weg von den Menschen, die Charlie so verletzt hatte. Aber Henry versicherte Chuck, dass es keinen Grund zum Wegziehen gebe. Die Amischen hielten unsere Familie nicht für verantwortlich für Charlies Tat. «Ich glaube, der Teufel hat euren Jungen benutzt», sagte Henry.
Bis heute nenne ich Henry meinen «Engel in Schwarz». In den nächsten Tagen besuchte eine Gruppe von Amischen Leitern die Eltern von Marie, Charlies Witwe. Jeder von ihnen hatte ein Kind in der Familie verloren. Sie zogen Maries Vater in ihren Kreis hinein, umarmten ihn, und die Familien der Opfer und der Schwiegervater ihres Killers weinten und beteten zusammen.
Vergebung ist eine Entscheidung
Szene aus «Amish Grace – wie auch wir vergeben»
Ich war dankbar für die Reaktion der Amischen, aber ich verstand sie nicht. «Wenn wir nicht vergeben, wie kann uns vergeben werden?», sagte ein Amischen-Sprecher in einer TV-Sendung kurz darauf. «Vergebung ist eine Wahl. Wir entscheiden uns, zu vergeben», ergänzte ein anderer.
Das waren nicht nur Worte. Die Amischen bestimmten, dass ein Teil der Beileids-Beiträge uns, der Familie des Killers, zugute kommen sollte. Und bei der Beerdigung ihrer Mädchen kamen als erste Chris und Rachel Miller, deren zwei Töchter in ihren Armen gestorben waren, auf uns zu. Nach einer gemurmelten Begrüssung sagten sie sanft: «Es tut uns leid um euren Verlust.» «Um euren Verlust»! Ich konnte kaum eine Erwiderung hervorbringen. Unser Sohn hatte das Leben ihrer Töchter genommen. Und jetzt trösteten sie uns!
In diesem Augenblick begriff ich es. Vergebung ist eine Entscheidung. Es ist kein Gefühl, sondern ein Entschluss. Diese Eltern litten und trauerten genauso wie wir. Ich musste meine Gefühle von Wut, Verletzung und äusserster Verwirrung nicht verändern. Ich hatte nur eine Entscheidung zu fällen: zu vergeben.
Und ich verstand auch den zweiten Teil der Botschaft der Amischen: «Wenn wir nicht vergeben, wie kann uns vergeben werden?» Ich bin kein Mörder, aber ich habe auch Falsches getan. Und mir wurde vergeben! Wie kann ich die Vergebung, die mir geschenkt wurde, nicht auch weitergeben – sogar, ja, besonders meinem eigenen Sohn?
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