Immer mehr Gott spielen am Anfang und am Ende des Lebens?
Gott
schenkt das Leben und er nimmt es auch wieder. Über viele Jahrhunderte
war das gesetzt. Doch nun nimmt der Mensch sein Schicksal am Anfang und
am Ende des Lebens mehr und mehr selber in die Hand. Was bedeutet das? Eindrücke von zwei Podiumsgesprächen im Riehener Wenkenhof.
CVP-Nationalrat Christian Lohr (links) und Autorin Birgit Kelle mit Moderator Patrick Rohr
«Je mehr wir wissen, desto mehr
müssen wir entscheiden und desto schwieriger wird der Entscheid», kam
Moderator Patrick Rohr während der «Wenkenhof-Gespräche» in Riehen zur
Erkenntnis. An der zweiteiligen Podiumsdiskussion mit dem Titel «Leben –
Sterben – wer bestimmt?» wurden diese Fragen diskutiert.
Der Anfang des Lebens
Am ersten Abend ging es um den Anfang
des Lebens und die Fortschritte in der Fortpflanzungsmedizin. Die
Methoden der künstlichen Befruchtung werden vielfältiger und
zuverlässiger. Die Erfolgsrate bei der In-vitro-Fertilisation (IVF,
Zeugung im Reagenzglas) ist beträchtlich gestiegen. «Als ich angefangen
habe, konnten wir mit Mühe 10 Prozent der Frauen ermöglichen, ein Kind
zu gebären. Heute sind es gut 70 Prozent», erklärte Bruno Imthurn, der
Leiter des «Kinderwunschzentrums» der Universität Zürich. Wenn die
Eizelle allerdings nicht funktionsfähig ist, stösst man in der Schweiz
an gesetzliche Grenzen. Eine Eizellenspende ist hierzulande (noch) nicht
erlaubt. Hunderte von Schweizer Paaren reisen deshalb jedes Jahr nach
Spanien, um den Eingriff dort machen zu lassen. Das bedeutet, dass bei
einer fremden Frau die Eizellenproduktion mit Hormonen stimuliert wird.
Die Eizellen werden dann gegen Bezahlung entnommen, befruchtet und der
Empfängerin eingepflanzt.
Das «Social Freezing» wird hingegen auch in
der Schweiz praktiziert. Dabei werden in einem jungen Alter eigene
Eizellen eingefroren, um sie zu einem späteren Zeitpunkt aufzutauen und
befruchten zu lassen.
Wird das Kind zu einem Lifestyle-Accessoire?
«Ist es eine gute Entwicklung, dass
wir heute so viele Möglichkeiten haben?», wollte der frühere
SRF-Moderator Rohr von seinen Gästen wissen. Die streitbare deutsche
Autorin Birgit Kelle (aktuelles Buch: «Muttertier») begrüsste zunächst,
dass durch die Fortpflanzungsmedizin heute sehr vielen Paaren geholfen
werden kann, ihren lange gehegten Kinderwunsch zu erfüllen. Gleichzeitig
kritisierte sie aber, dass manche Frauen aufgrund ihrer Lebens- und
Karriereplanung den natürlichen Zeitpunkt verpassen: «Es ist fahrlässig
zu sagen: 'Mir ist jetzt alles andere wichtiger', und dann soll mit 45
die Medizin helfen. So wird das Kind zu einem Lifestyle-Accessoire.»
Bruno Imthurn wandte ein, dass in den letzten hundert Jahren die
Lebenserwartung von 50 auf weit über 80 gestiegen sei. «Warum sollte
eine Frau nicht auch in einem höheren Alter Kinder haben dürfen?»,
fragte er und betonte, dass ein unerfüllter Kinderwunsch von der WHO
sogar als Krankheitsbild anerkannt sei.
Wenn aus dem Kinderwunsch ein Wunschkind wird
Dass es etwas sehr
Ernstzunehmendes ist, wenn ein Paar keine Kinder bekommen kann,
unterstrich auch CVP-Nationalrat Christian Lohr. Er stellte aber die
Frage: «Was ist, wenn aus einem Kinderwunsch ein 'Wunschkind' wird?»
Damit spielte er auf die Möglichkeiten der genetischen Diagnostik an.
Hier tun sich noch ganz andere ethische Fragestellungen auf.
Seit
September letzten Jahres ist in der Schweiz die
Präimplantationsdiagnostik (PID) erlaubt. Mehrere Embryonen werden im
Reagenzglas erzeugt und genetisch untersucht. Der Embryo, der das
grösste Potenzial für eine erfolgreiche Schwangerschaft mitbringt, wird
ausgewählt. Es wird also bewusst Leben selektiert.
Birgit Kelle: «Wenn eine Krankheit am Lebensanfang nicht
mehr zumutbar ist, wie ist es am Lebensende? Wird der Kranke dann auch
als Belastung gewertet? Dürfen wir irgendwann auch aussortieren und das
sozialverträgliche Frühableben empfehlen?»
Das Ende des Lebens
Andreas Dummermuth, AHV/IV-Leiter des Kantons Schwyz, Giuseppe Gracia, Schriftsteller und Mediensprecher des Bistums Chur, Moderator Patrick Rohr und Heike Schulz, Direktorin der Bethesda-Alterszentren (v.l.n.r.)
Damit griff Kelle dem zweiten
Abend vor, der auf genau diese Fragestellung einging. Denn auch die
Möglichkeiten, das Leben am Ende zu verlängern oder zu verkürzen, werden
immer mehr in die Hände des Menschen gelegt. Am Gespräch nahm unter
anderem Rolf Lyssy teil. Der Schweizer Regisseur («Die letzte Pointe»)
ist Mitglied bei Exit und engagiert sich dort in einem Komitee für den
Altersfreitod. Darunter versteht man das selbst gewählte Sterben im
Alter, ohne dass eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt. Dass Exit dem
Thema «Altersfreitod» weiter nachgehen wird, wurde an der
Mitgliederversammlung am 6. Juni beschlossen. Lyssy drückte sich
unmissverständlich aus: «Grundsätzlich hat die Selbstbestimmung keine
Grenzen. Wir sind aufgeklärte Menschen, die für sich selbst entscheiden
können.»
«Ich koste ja nur noch»
Das wollte Guiseppe Gracia, Schriftsteller (aktuelles Buch: «Der Abschied»), Mediensprecher des Bistums Chur und routinierter
Talkshow-Gast, so nicht stehen lassen. Gracia empfindet es als «Engführung», wenn immer nur über die vermeintliche
Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung gesprochen wird. Wichtiger
sei eine Frage, die kaum diskutiert werde: «Wie kommt es überhaupt zu
einem Sterbewunsch?» Dieser sei nämlich in Wahrheit weniger
selbstbestimmt, als man allgemein annehme. «Es gibt keine Souveränität
des Menschen, die über allem schwebt. Wir sind von unserer Kultur
geprägt», betonte der Katholik aus der Ostschweiz. Problematisch sei,
dass sich die Gesellschaft vor allem über die Leistungsfähigkeit
definiere. «Wir leben in einer Gesellschaft, die alles optimieren will.
Worauf läuft das hinaus?», fragte Gracia. Der häufigste Satz von
sterbewilligen Senioren laute: «Ich koste ja nur noch.»
Unterstützt wurde Gracia von Heike
Schulz, der Direktorin der Bethesda-Alterszentren: «Alte Menschen haben
ein schlechtes Gewissen, wenn sie kosten und zur Last fallen.» Und der
Druck nehme tatsächlich zu.
Gibt es überhaupt Grenzen ohne Gott?
In den zwei Abenden wurde deutlich,
dass drei Dinge zusammenspielen: technologischer Fortschritt,
Wertewandel in der Gesellschaft und die Frage des Geldes. Zusammen
ergibt das eine Mischung, die durchaus brisant ist. Natürlich darf man
den Fortschritt nicht verteufeln. Wir dürfen froh sein, dass die Medizin
nicht auf dem Stand des Jahres 1500 stehen geblieben ist. Wir
profitieren jeden Tag von den Früchten der Forschung und niemand will
darauf verzichten. Doch die Wissenschaft stösst immer mehr in
Grenzbereiche vor. Dabei kann man wohl sagen, dass der Lebensschutz
mit jedem Schritt eher aufgeweicht wird. Darum braucht es Grenzen. Doch
lassen wir sie uns setzen, wenn wir doch zunehmend in der Gesellschaft auf Gott verzichten? Birgit Kelle sagte während des Podiums: «Der
Mensch muss vor sich selbst geschützt werden.» Auch das kann eigentlich
nur Gott selbst tun – denn wer sonst?
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