Der
österreichische Kabarettist Georg Kreisler fragte 1956 beim Institut für
Gerichtliche Medizin der Universität Wien an, was ein Mensch wert sei. «40
Schilling» war die Antwort des Instituts, das den Wert «nach verschiedenen
Zerlegungsgraden» berechnete. Zu einem vergleichbaren Ergebnis kam der
US-Biochemiker Donald T. Forman und bezifferte den stofflichen Wert eines
Menschen 1975 mit 5,60 Dollar.
Natürlich ist das nicht der wirkliche Wert eines
Menschen. Ein Mensch ist einmalig. Wertvoll. Unbezahlbar. Aber ist das so? Tatsächlich schreiben die meisten Branchen dem Menschen
durchaus einen bestimmten Wert zu.
Zwischen
WSL und Humankapital
Die Vorstellung, Menschenleben zu bewerten, löst bei
mir zunächst einmal Befremden aus. Dasselbe Befremden empfand wohl auch die
sprachkritische Jury, die deshalb den Begriff «Humankapital» zum Unwort des
Jahres 2004 erklärte. Doch worum geht es dabei? In erster Linie darum, dass
Firmen feststellen, wie viel ein Mensch mit seiner erwarteten Arbeitsleistung,
seiner Ausbildung und Erfahrung für das Unternehmen wert ist. Das mag nicht
besonders schön sein, ist aber ein legitimes Anliegen.
Der Journalist und Autor Jörn Klare griff diese
Gedanken in seinem Buch «Was bin ich
wert? Eine Preisermittlung» auf und wandte sich branchenübergreifend an
verschiedene Ansprechpartner. Sein Einstieg war immer die direkte Frage:
«Wie viel, glauben Sie, bin ich wert?» Die erste Antwort war meist: «Das kann
ich Ihnen nicht sagen…». Aber sobald er nachhakte, kam die Sprache auf
Humankapital, Ressourcenausfallkosten oder WSL – den sogenannten «Wert eines
statistischen Lebens». Und plötzlich lagen Zahlen auf dem Tisch.
Die praktische Anwendung
Das Überraschende und gleichzeitig Perfide daran
ist, dass diese Zahlen tatsächlich für Entscheidungen herangezogen werden. Für
Entscheidungen um Leben und Tod. Ein Strassenverkehrsopfer wird in Deutschland
zum Beispiel ziemlich genau mit 1,2 Millionen Euro bewertet. Mit diesem Betrag
wird gerechnet, wenn es darum geht, wo an einer Strasse Leitplanken montiert
und wo Ampeln aufgestellt werden. Es geht primär nicht mehr um Menschenleben,
sondern um eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Krankenversicherungen stellen ähnliche
Rechnungen auf: Lohnt sich die Hüft-OP eines Patienten noch, wenn er bereits
über 75 ist?
All das fühlt sich nicht gut an, trotzdem sind
solche Aufstellungen wahrscheinlich bis zu einem gewissen Grad nötig. Aber –
und das ist ein grosses Aber – hierbei geht es um Gewinnerwartungen und
ökonomische Entscheidungen, nicht um ethische Überlegungen. Der
gesellschaftliche Trend geht zwar stark in Richtung «Was sich rechnen lässt,
ist hinterher auch richtig», doch Jörn Klare entlarvt diesen Ansatz in seinem
Buch als das, was er ist: die Angst, Verantwortung zu übernehmen. Lieber
verlasse ich mich auf eine anonyme, fragwürdige Formel (und kann nichts für das
Ergebnis!), als dass ich mich wirklich mit den schwierigen Fragen rund um den
menschlichen Wert auseinandersetze.
Wir sind
unterschiedlich viel wert
So unbequem diese Zahlen auch sein mögen: Sie
suggerieren, dass wir Menschen alle gleich viel wert sind. Doch das ist falsch.
Versicherungen in den USA setzten den Lebenswert eines Tellerwäschers, der 2001
in den New Yorker Twin Towers umkam, auf 250'000 Dollar fest, den eines
Investmentbankers auf 7,1 Millionen.
Eine Spenderniere kostet bei uns über 100'000 Euro,
in der Türkei gibt es sie schon ab 80'000 (wobei der Moldawier, dem sie
abgepresst wurde, nur rund 2'000 Euro erhält), in Indien liegt der Strassenpreis
bei 300 Dollar… In Afrika kann ich ein Adoptivkind für weniger als 20'000 Euro
kaufen und in Albanien eine Frau für 800 Euro. Menschen sind unbezahlbar? Alle
Menschen sind gleich viel wert? Die Praxis zeigt das krasse Gegenteil.
Auch
christliche Helfer treffen ungerechte Entscheidungen
Nun lesen Sie gerade die christlich geprägte
Internetseite von Livenet und nicht das Wall Street Journal. Deshalb sollte
jetzt wohl die Erklärung folgen, dass «bei Christen alles ganz anders» ist.
Dabei gibt es nur ein Problem. Bei uns ist vieles anders, aber wir kämpfen mit
den gleichen Fragen.
Die Theorie ist klar: Christen, die sich in der
humanitären Hilfe engagieren, helfen ohne Ansehen der Person, unabhängig von
ethnischer Zugehörigkeit, religiöser, sexueller oder sonstiger Orientierung.
Aber dann wird es praktisch. Ich war selbst schon mit einem grossen Lkw voll
Hilfsgüter in einem irakischen Flüchtlingslager. 1'000 Matratzen hatten wir
dabei,10'000wurden gebraucht. Ich habe Lebensmittelpakete an Geflüchtete
abgegeben, während genauso bedürftige und notleidende Menschen durch einen
Absperrzaum zuschauen mussten. Ich sehe
noch die grossen Augen der Frau, die ihren Säugling an den Zaun hält. Und ich
verstehe ihre Frage, auch ohne dass sie sie ausspricht: «Und was ist mit meinem
Kind? Ist es weniger wert?»
Natürlich nicht! Aber auch im humanitären Bereich
und ohne Finanzinteressen treffen wir Entscheidungen. Ich persönlich sehe ständig
mehr Not um mich herum, als ich mit dem lindern kann, was ich im Portmonee habe.
Und das ist ungerecht! Dass ich nur einem Hilfsbedürftigen helfen kann und zehn
andere leer ausgehen, ist ungerecht. Genauso ungerecht wie die Tatsache, dass
es mir gut geht und ich darüber nachdenken kann, etwas von meinem Wohlstand
abzugeben, während andere hungern. Nur, was wäre die Alternative? Soll ich erst
dann anfangen zu helfen, wenn ich «gerecht» helfen kann? Also allen? Dann kann
ich in diesem Leben niemandem mehr helfen.
Viele Hilfswerke haben als Grundsatz, dass bei ihnen
der Einzelne zählt. Das hört sich persönlich und positiv an – und das ist es auch!
Aber gleichzeitig zeigt es die Grenzen jeder Hilfeleistung. Selbst wenn mir ein
Mensch nicht wertvoller ist als ein anderer, muss ich mich beim Helfen oft für
einen von beiden entscheiden. Das lässt viele Fragen offen. Das fühlt sich für
mich als Helfer nicht gut an. Aber es ist realistisch: Humanitäre Hilfe darf
sich nicht daran orientieren, was sich für den Helfenden gut anfühlt. Und
humanitäre Hilfe muss ungerecht sein – eben weil jeder Mensch gleich wertvoll
ist.
Wer ist
mein Nächster?
Helfen lässt sich immer hinterfragen. Und Helfer
zweifeln permanent an sich selbst. Klassisch geworden ist die Szene im Film
«Schindlers Liste», wo Oskar Schindler als Dank seiner jüdischen Mitarbeiter,
die er vor dem Holocaust gerettet hat, einen goldenen Ring mit der
Talmud-Inschrift erhält: «Wer nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze
Welt». Doch der zwiespältige Held freut sich nicht. Er realisiert: «Ich hätte
mehr Menschen rausbekommen müssen… ich habe so viel Geld zum Fenster rausgeworfen.»
Stimmt. Aber anders als viele andere handelte Oskar Schindler und half.
Jesus fasste solche
Gedanken zu einem der bekanntesten Texte der Bibel zusammen, zum Gleichnis des
barmherzigen Samaritaners (Lukas, Kapitel 10, ab Vers 25).
Da ist ein Mensch in Not. Und andere realisieren das. Sie sehen den
überfallenen, verletzten und hilfsbedürftigen Kaufmann. Alle werden
konfrontiert mit der Frage: Was ist mir dieser Mensch und sein Leben wert? Alle
müssen eine Antwort darauf finden. Gerade die Frommen bekleckern sich nicht mit
Ruhm. Sie haben wahrscheinlich nachvollziehbare Vorbehalte, aber sie tun
nichts. Ausser vorbeizugehen. Der Samaritaner hat wahrscheinlich dieselben
Fragen wie seine Vorgänger. Doch er handelt und hilft. Weil ihm ein
Menschenleben alles wert ist. Er fragt sich nicht, ob irgendwo anders auch noch
jemand auf der Strasse liegt und Hilfe braucht – er hilft. Und Jesus sagt dazu:
«Geh du hin und handle ebenso!» Ich weiss, dies ist keine Antwort auf die
Ausgangsfrage, aber es ist alles, was ich tun kann.
Medientipps:
Jörn Klare (2011): Was bin ich wert? Eine Preisermittlung. Berlin: Suhrkamp (ISBN 978-3-518-46262-1, Euro 8,95).
Peter Scharf (2014): Was bin ich wert? Ein Road-Movie durch die faszinierend-bizarre Welt der Menschenwert-Berechner. Dokumentarfilm, 98 Min. (Mehr Infos)
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