Vergebung leben

Ruanda und ich

In der Theorie ist es einfach, über Vergebung zu sprechen. Doch jenem Mann zu vergeben, der die eigenen Kinder umgebracht hat, ist was ganz anderes. Alice Mukarurinda hat dies nach dem Völkermord in Ruanda getan. Gedanken dazu von Hauke Burgarth.

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Emmanuel Ndayisaba und Alice Mukarurinda sind heute Freunde.
Wenn Sie mich fragen, was ich von Vergebung halte, dann fällt mir die Antwort nicht schwer: Vergebung ist immens wichtig. Ich bin dankbar, dass Gott mir vergibt. Und ich weiss, dass wir als Christen deshalb anderen Menschen auch vergeben sollen – und können. Doch dann höre ich die Geschichte von Alice und Emmanuel aus Ruanda...

Im Blutrausch

Die Geschichte beginnt wie so viele aus der dunklen Zeit des Völkermords in Ruanda vor 20 Jahren. Emmanuel Ndayisaba ist ein Hutu. Als die Unruhen losgehen, greift der aufgestachelte junge Mann zu seiner Machete und ist mit von der Partie.

«Ich habe einen Job für dich», sagt ihm der örtliche Hutu-Führer und bringt ihn zum Haus eines Christen, mit dem er gemeinsam im Kirchenchor singt: «Töte ihn!» Emmanuel hat noch nie getötet, doch er tut es. In den nächsten Tagen bringt er zahlreiche Menschen mit seiner Machete um. Er meint dazu: «Bei der ersten Familie, die ich getötet habe, habe ich mich schlecht gefühlt. Aber dann habe ich mich daran gewöhnt. Uns wurde gesagt, dass die Tutsi böse sind, und nach der ersten Familie habe ich gefühlt, dass ich Feinde töte.»

Auf der Flucht

Alice Mukarurinda sucht auf dem Grundstück einer Kirche Schutz vor dem mordenden Mob. Die Hutu legen Feuer und stürmen die Kirche. 5'000 Menschen werden dabei abgeschlachtet. Alice kann mit einer Nichte und ihrer 9-monatigen Tochter in den Sumpf entkommen. Doch die Todesschwadronen durchkämmen systematisch das ganze Gebiet. Jedes Mal, wenn sie einen Tutsi finden, blasen sie in eine Trillerpfeife. Verfolger und Verfolgte wissen dann: Jetzt stirbt wieder jemand.

Es ist Emmanuel, der Alice schliesslich findet. Sie sind gemeinsam in die Schule gegangen, er erkennt sie, erinnert sich jedoch nicht mehr an ihren Namen. Zuerst bringt er die beiden Kinder um. Dann kommt Alice an die Reihe. Die junge Frau hebt ihre rechte Hand zum Schutz – er schlägt sie ab und verletzt sie am Kopf. Dann lässt er sie zum Sterben liegen. Doch Alice überlebt.

Von Schuld zerfressen

Nach dem 100-tägigen Massenmord versuchen viele, einfach wieder in ihren Alltag zurückzukehren. Emmanuel kann das nicht. Seine Schuld zerfrisst ihn. So stellt er sich den Behörden und geht ins Gefängnis. Nach sechs Jahren wird er mit all denen, die ihre Schuld gestanden haben, entlassen. Doch das reicht ihm nicht: Er tritt einen schweren Weg an, sucht die Angehörigen seiner Opfer auf und bittet sie um Verzeihung.

Vergebung

Als sich Emmanuel einer Gruppe von Tätern und Opfern anschliesst, die einfache Häuser für die Betroffenen baut, trifft er die totgeglaubte Alice wieder. Zuerst geht er ihr aus dem Weg. Doch schliesslich fällt er vor ihr auf die Knie und bittet sie um Vergebung. Alice braucht Bedenkzeit. Ihre Tochter ist schliesslich tot und ihren Armstumpf hat sie immer vor Augen. Doch schliesslich ringt sich die Frau dazu durch, die Entschuldigung anzunehmen.

Heute sind Alice Mukarurinda und Emmanuel Ndayisaba Freunde. Sie ist Schatzmeisterin, er Vizepräsident der Organisation, bei der sie sich wiedergetroffen haben. Und sie stehen mit ihrer von extremer Gewalt und unglaublicher Versöhnung geprägten Geschichte für die Geschichte des modernen Ruandas. Alice unterstreicht: «Die Bibel sagt, du sollst vergeben, und dir wird auch vergeben.»

Wenn Sie mich fragen…

Wenn Sie mich fragen, was ich von Vergebung halte, dann fällt mir die Antwort doch schwer. Ich habe Verletzungen vor mir, die ich einstecken musste, Unrecht, das ich erlitten habe – und es ist so banal, wenn ich es mit dieser Geschichte vergleiche. Dieser Geschichte, die keine «Geschichte» ist, sondern Realität. Im Moment hat Vergebung für mich ein neues Gesicht. Das Gesicht von Alice Mukarurinda.

Vergebung hat aber auch eine neue Stimme für mich bekommen. Die Stimme von Emmanuel Ndayisaba, der sich heute nicht mehr den Mund verbieten lässt, weil er weiss: «Dieselben Menschen, die damals den Völkermord propagiert haben, behaupten heute, er hätte gar nicht stattgefunden.» Manchmal beginnt Vergebung damit, dass ich meine Stimme erhebe, damit Unrecht gar nicht erst stattfindet. Ob in Ruanda oder hier.

Zum Thema:
Trauriges Jubiläum: Ruanda zwischen Völkermord und Versöhnung
Musik für 100'000 Waisen: Berufsmusiker bringen Hoffnung nach Ruanda
Vergebung nach dem Völkermord: Ruanda: «Und dann kamen die Milizen!»

Datum: 12.04.2014
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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