Protestantismus

Stress der Modernisierung

Uster. Mit dem neuen Kirchengesetz kommt die Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich unter den Modernisierungsdruck. Die Aussprachesynode beschäftigte sich mit diesem Thema. Spiritualität und Solidarität seien die Schlüsselthemen der Kirchen auf dem heutigen Markt der Weltanschauungen, betonte der prominente Gastreferent aus Wien, der katholische Pastoraltheologe Paul M. Zulehner.

Für die eintägige Standortbestimmung engagierte der Kirchenrat Referenten von internationalem Ruf: den katholischen Pastoraltheologen Paul M. Zulehner aus Wien sowie den reformierten Pfarrer Klaus Douglass aus Niederhöchstadt bei Frankfurt.

Grosskirche statt Volkskirche

Paul M. Zulehner präsentierte eingangs eine "Marktanalyse" und beleuchtete den kulturellen Hintergrund. Die Zeit, als das Christentum das Leben bestimmte, ist längst dem freiheitlichen Modell der Grosskirche gewichen: die Religionsfreiheit ist in den Verfassungen festgeschrieben. Die Grosskirche entwickelt sich unter den modernen Bedingungen und bringt die Kirchen in Modernisierungsstress.

Das heisst: Der Anspruch auf Freiheit im Denken wird seit den achtziger Jahren in der Abkehr von Institutionen, Normen und Autoritäten vollzogen. Religion wird unsichtbar, privat. Für die Kirchen heisst dies: Die einzelne Person wählt die Kirche. Trotzdem bezeichnen sich 73 Prozent der Schweizer Bevölkerung als religiös, für 55 Prozent ist Religion wichtig. Zudem boomt die "Sehnsucht nach masslosem Glück innert kürzester Zeit". Die Angst, etwas zu verpassen, mache das Leben hastig und führe zu Entsolidarisierung, erläuterte Zulehner.

Respiritualisierung als Gegengewicht

Der Wiener Pastoraltheologe gab den Synodalen vier Wege vor: die Suche nach dem Ich gegen die kosmische Vereinsamung, die Suche nach Verwobenheit in einer krankmachenden Kultur, die Suche nach Heilung inmitten der Kultur der Hinrichtung und die Suche nach der Kultur der Liebe. Diesbezüglich leide der Protestantismus unter einem starken Modernisierungsstress, erklärte Zulehner.

In der neuen Kirchensozialstruktur müssten deshalb pluralistisches Denken und vielfältige Sozialformen Platz finden. Dazu vier Formen: die Stellvertretungskirche (unsichtbare Kirchenorientierung), die Eventkirche (Kirchentage, Missionen, Notfälle), die Biografiekirche (Lebenswenden) und die Netzwerkkirche (für die Evangelisierung der eigenen Religiosität und ein angemessenes Engagement mit anderen).

Ebenso klar formuliert müssten die Ziele der Kirchen auf dem Markt der Weltanschauungen sein: Spiritualität und Solidarität seien Schlüsselthemen. Das bedeutet eine Respiritualisierung und eine neuartige Aufmerksamkeit für die Fragen der Gerechtigkeit, für Gottes- und Nächstenliebe.

"Pfarrer: Spieler statt Trainer"

Die reformierte Kirche brauche eine grundlegende Veränderung des Bestehenden, forderte Pfarrer Klaus Douglass. "Ich glaube, dass unsere Kirche sich meilenweit von der Absicht Gottes entfernt hat." Zudem habe sie den Anschluss an den Menschen von heute verpasst. Als erste Änderung forderte er die "Abschaffung des herkömmlichen Pfarramtes", nicht aber der Pfarrer. Es entspreche nicht mehr dem biblischen Pastorenamt, das stark von persönlichen Beziehungen geprägt sei, und überfordere Pfarrer wie Gemeinden. Denn: "Unsere pfarrerzentrierten Gemeinden sind zu geistlichen Behindertenanstalten degeneriert".

Als Konsequenz forderte er ein neues Berufsbild für Pfarrerinnen und Pfarrer. Die zweite Änderung: "Aktivieren Sie das allgemeine Priestertum der Gläubigen." Das bedeutet für den Pfarrer, dass es seine Hauptaufgabe sein werde, Mitarbeitende aus der Gemeinde zu finden, sie zu befähigen und zu begleiten. Damit würden Gemeinden zu Multiplikatoren des Evangeliums.

Autor: Jakob Hertach

Datum: 19.09.2002
Quelle: Kipa

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