«Demokratur»

Wie gerecht kann eine Demokratie sein?

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Das Abstimmungsresultat zur CVP-Familieninitiative hat gezeigt: Unsere direkte Demokratie kann gegenüber Minderheiten ziemlich unbarmherzig sein. Sollen wir sie abschaffen oder reformieren? Ein Kommentar von Fritz Imhof.

Die Schweiz ist stolz auf ihre direkte Demokratie. Sie ist aber ein zartes Pflänzchen und auf Gerechtigkeitssinn, Rücksicht auf Minderheiten, Gemeinsinn und Gerechtigkeitssinn angewiesen. Sonst verkommt sie leicht zum Hammer für ungeliebte Minderheiten und kann so Züge einer «Demokratur», also einer Diktatur der Mehrheit über die Minderheit, annehmen. Die Bundesverfassung weist bekanntlich gleich im Prolog mit dem Hinweis auf das Wohl der Schwachen auf diesen Punkt hin.

«Das Volk» als Alibi

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Heute ist es relativ einfach geworden, einer Volksinitiative zu einer Mehrheit zu verhelfen, wenn es gelingt, ein paar schlechte Beispiele zu einem allgemeinen Missstand hochzustilisieren. Die Medien helfen wacker mit, negative Emotionen zu schüren. Seien es Ausländer, Asylbewerber, Sozialhilfebezüger. Schnell sind sie in der Schublade der Schmarotzer gelandet, und darauf reagiert die Schweizer Seele empfindlich. Und das Volk wird dann auch bereit sein, einer Volksinitiative zur Mehrheit zu verhelfen, auch wenn diese letztlich gegen die Verfassung verstösst.

Moritz Leuenberger, alt Bundesrat und häufiger Redner, erinnert gerne an den Prozess gegen Jesus. Dieser wurde durch das Volk entschieden, das zuvor – frustriert und enttäuscht – aufgewiegelt und damit für eine ungerechte Sache eingespannt werden konnte. Und heute? Volkes Stimme ist manipulierbarer geworden in einer Zeit, wo die Medien vom Schüren von Emotionen leben.

Auch der totale Krieg war mehrheitsfähig

Deutschland kennt die leidvolle Geschichte, wie eine Demokratie sich missbrauchen liess, zu einer Diktatur umfunktioniert zu werden, welche ihre jüdische Minderheit brutal ausrottete. Ein Volk liess sich hinreissen, den «totalen Krieg» zu bejubeln. Zuvor hatten demokratische Institutionen versagt. Leuenberger fordert daher zu Recht das Parlament auf, den Mut zu finden, eine Volksinitiative, die fundamentale Rechte ritzt, auch mal zu verbieten. Es gibt aktuelle Beispiele wie die Ausschaffungsinitiative, wo dies verpasst wurde und womit sich das Parlament jetzt endlos mit der Umsetzung herumschlägt. 

Entscheidungskriterien bei Abstimmungen

Leuenberger will dennoch an den «aufgeklärten Citoyen» glauben, auch wenn dieser Glaube erschüttert sei, schreibt er in einem Aufsatz für die NZZ. Also an einen Stimmbürger, der nicht nur die eigenen Interessen im Auge hat, sondern Werte wie Minderheitenrechte, Minderheitenschutz, Nachhaltigkeit, Solidarität und Gerechtigkeit hochhält. Christlich könnte man von Werten wie Nächstenliebe, Frieden, Verantwortung und Wertschätzung sprechen. Oder, frei nach Jeremia Kapitel 2, Vers 7: Was dient «der Stadt» oder dem Land und der Gesellschaft als Ganze zum Besten? Dass dieses Abwägen je nach kirchlicher oder politischer Prägung manchmal unterschiedlich ausfallen kann sei eingestanden. Wichtig ist aber das Motiv, das zur Entscheidung führt.

Wertekatalog als Kriterium

Die EVP hat vor den letzten Wahlen einen 9 Punkte-Wertekatalog lanciert. Er ist es wert, wieder mal konsultiert zu werden, auch wenn er «nur» 2'400 Unterschriften erzielt hat. Wer ihn ernst nimmt, ist auch mal in der Lage, gegen seine Interessen zu stimmen und zum Beispiel für finanzielle Erleichterungen für Familien mit Kindern zu stimmen, auch wenn die eigenen Kinder längst ausgeflogen sind. Er nimmt das Risiko in Kauf, dass die Steuern deswegen steigen könnten. Einfach weil er sich bewusst ist, welche wichtige Aufgaben Familien für unsere gemeinsame Zukunft auf sich nehmen.

Zum Thema:
Familieninitiative abgelehnt: Der Streit um die gerechte Entlastung führte zum Scheitern
Ergebnis einer neuen Studie: «Direkte Demokratie behindert religiöse Minderheiten»

Absturz der Familieninitiative: Wie kann und soll der Staat die Familien unterstützen?
Sind wir nicht alle Komplizen? Abtreibungsfinanzierung: reine Privatsache?

Datum: 12.03.2015
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet

Kommentare

Der Verfasser des Kommentars scheint mit dem Abstimmungsausgang vom letzten Sonntag nicht glücklich zu sein. Das ist auch jedermanns gutes Recht. Daraus zu schliessen, dass sich das Resultat gegen eine Minderheit oder die Familie richte, ist aber meiner Meinung nach keinesfalls angebracht. Die Familie stellt in der Schweiz keine Minderheit dar. Und anscheinand haben gerade viele Familien erkannt, dass durch eine solche Regelung gerade die Einkommensschwachen Familien und der Mittelstand eben nicht entlastet werden und durch künftige Steuereinbussen gerade auch Leistungen für Familien (Prämienverbilligungen) in Gefahr geraten. Demzufolge haben auch viele Familien "weise" abgestimmt.
Guten Tagen, die Grundidee Familien mit Kindern zu entlasten finde ich völlig richtig (ich selber habe auch einige minderjährigen Kinder). Warum habe ich trotzdem NEIN abgestimmt? Vielleicht war meine Haltung wirklich nicht so Jesus-Konform, aber warum kann man nicht einfach die Kinderzulagen erhöhen, damit auch die ärmeren Familien etwas davon haben? Grüsse Marmumi
Nun ja, ich als Grossvater, habe auch für die Initiative gestimmt. Dass gleich mit den Steuern argumentiert wurde, fand ich eher unangebracht. Nun eben, ein leidiges Problem ist ebenfalls die steuerliche Ungerechtigkeit bei verheirateten. Hier würde ich von den "christlichen Parteien" mehr Biss uns Aktivität erwarten. Auch hier, die Steuern anzufügen scheint mir zu banal und zu einfach. Wie dem auch sei, ich finde trotzdem, wir haben die beste Demokratie der Welt. Wo gibt es sonst noch das "Initiativrecht" und das "Referendum"? Auch wenn wir uns damit manchmal schwer tun ist es trotzdem "das kleinere Übel". Für uns Christen ist es eine Herausforderung unsere Demokratie richtig zu leben.

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