In der Schweiz wird bald über die Selbstbestimmungsinitiative abgestimmt. Erich von Siebenthal (SVP) und Marianne Streiff (EVP) nehmen im Wochenmagazin «idea Spektrum» differenziert Stellung zur aktuellen Debatte.
Erich von Siebenthal und Marianne Streiff
Die PRO-Seite bei der Selbstbestimmungsinitiative vertritt Erich von Siebenthal. Er ist Bergbauer, Nationalrat der
SVP, Mitglied u. a. der Sicherheitspolitischen Kommission und
Vizepräsident der GPK. Gegen die Initiative stellt sich Marianne Streiff. Sie ist Nationalrätin, Präsidentin EVP Schweiz, Präsidentin von INSOS Schweiz und TearFund Schweiz.
1.) Wie wirkt die Schweiz glaubwürdiger – mit internationalen Abkommen oder mit der Bundesverfassung an oberster Stelle?
Erich von Siebenthal:
«Das Weltgeschehen hat sich in den letzten hundert Jahren enorm
verändert. Die Schweiz hat dank ihrer Neutralität immer ihren Weg
gefunden. Im Nachhinein kann man sich sicher die Frage stellen, ob immer
alles gut war. Wir blieben vor zwei Weltkriegen verschont und genau vor
hundert Jahren nahm die grosse Krise des Generalstreiks dank weisen
Männern eine positive Wende. Davon profitieren wir noch heute.
Innovationskraft und die Entscheidungsfreiheit über Steuern und Abgaben
sowie gute Rahmenbedingungen haben uns Wohlstand gebracht.
Die Bundesverfassung ist unser Fundament, nach dessen Inhalten wir
unsere Parlamentsentscheide auszurichten haben. Es ist weltweit bekannt,
dass in der Schweizer Demokratie dem Volk das letzte Wort zusteht. Bis
heute wurde das auch immer akzeptiert, zuweilen auch beneidet.
Die Frage stellt sich: Wenn sich die Schweiz nicht mehr in erster
Linie nach der Bundesverfassung und der direkten Demokratie ausrichtet,
wonach richtet sie sich dann aus? Heute so, morgen so, je nach
Herausforderung? Mit der Bundesverfassung bleiben wir glaubwürdig und
berechenbar. Das gibt Vertrauen.»
Marianne Streiff: «Die Bundesverfassung ist bereits heute unsere oberste Rechtsquelle.
Die Behörden dürfen keine internationalen Verträge abschliessen, die
gegen unsere Verfassung verstossen. Die Verfassung steht also bereits
ganz oben. Dazu braucht es diese Initiative nicht. Sie würde jedoch
unser Land empfindlich schwächen: Unsere internationalen Verpflichtungen
würden andauernd infrage gestellt. Die Initiative will, dass wir uns
teilweise nicht mehr an geltende Verträge halten sollen.
Wir würden uns einer Regelung unterwerfen, die nicht mehr das Prinzip
der Vertragstreue in den Vordergrund stellt, sondern umgekehrt
Vertragsbruch oder potenziellen Rückzug vom Vertrag bewusst in Kauf
nimmt – und das auch noch in die Verfassung schreibt. Da stünde dann
faktisch: 'Liebe Vertragspartner weltweit, wir handeln gerne Verträge
mit euch aus. Aber unter Umständen halten wir uns dann halt nicht dran!'
Damit verliert die Schweiz international ihr Ansehen und jegliche
Glaubwürdigkeit als verlässlicher und stabiler Partner.
Wollen wir allen Ernstes gerade bei höchst komplexen Staatsverträgen
und internationalen Abkommen derart auf Konfrontationskurs mit unseren
Vertragspartnern gehen und massive Schäden in Kauf nehmen?»
2.) Wie kann die Schweiz am besten Einfluss nehmen - durch internationale Verträge oder durch grösstmögliche Eigenständigkeit?
Erich von Siebenthal:
«Als kleiner neutraler Staat sind wir am besten beraten, uns nicht in das grosse Weltgeschehen einzumischen. Internationale Verträge sind für unser Land sehr wichtig, auch in Zukunft. Vielleicht müssen einzelne Verträge nachverhandelt werden und neue sind je nach Ausrichtung eine Herausforderung. Wollen wir uns dem stellen? Da gibt es zurzeit eine von Angst geleitete Tendenz.
Wir sind ein neutraler Staat mit direkter Demokratie. Auch für die Zukunft ist dies der beste Garant, um über unsere Gesetze, Gerichte und politische Weiterentwicklung selber bestimmen zu können und nicht von irgendjemandem auf dieser Welt bestimmt zu werden. Das gibt Stabilität und Vertrauen.
Es könnte ja auch unseren Wohlstand beeinträchtigen, wird als Argument vorgebracht. Die wichtigsten Güter für ein Volk sind Frieden und Freiheit. Frei sein heisst, dass ich selber mitentscheiden kann. Zurzeit werden einmal mehr Völker und Menschen unterdrückt, weil andere Staaten sich einmischen, um ihre Interessen durchsetzen. Es wäre gut, genau hinzusehen, ob Frieden und Freiheit längerfristig nicht höher zu gewichten wären als unser Wohlstand. Eigenständigkeit gibt uns Profil und die Welt weiss, mit wem sie es zu tun hat.»
Marianne Streiff: «Es braucht beides. Fakt ist: Wir verlieren rein gar nichts von unserer grossen Eigenständigkeit, wenn wir diese sogenannte 'Selbstbestimmungs'-Initiative ablehnen. Dank unserer direkten Demokratie bestimmen wir nämlich bereits heute selbst: Parlament und Bevölkerung können schon heute verlangen, dass die Schweiz Staatsverträge kündigt - allerdings in einem bewusst beabsichtigten und demokratischen Prozess und nicht durch einen starren, blinden Mechanismus in der Verfassung.
Die SVP zeigt es doch mit ihrer 'Kündigungsinitiative' gegen das Personenfreizügigkeitsabkommen gerade selbst, dass dies in unserem System heute schon funktioniert: Wer einen Vertrag nicht mehr will, kann dessen Kündigung zur Diskussion stellen.
Direktdemokratischer als heute in der Schweiz geht ein Vertragsabschluss wirklich nicht. Ist es ein Gesetz, können wir das fakultative Referendum ergreifen. Betrifft es die Verfassung, muss es in jedem Fall vors Volk.
Wir haben jedoch viel zu verlieren: Gerade die kleine Schweiz ist enorm darauf angewiesen, vertraglich international gut eingebunden zu sein - und darauf, dass sich die grossen und mächtigen Staaten dann auch an diese völkerrechtlichen Vereinbarungen halten.»
3.) Was schützt christliche Werte besser – internationale Abkommen oder die Schweizer Bundesverfassung?
Erich von Siebenthal:
«Christliche Werte dürfen wir ausleben und schützen. Die
Bundesverfassung liefert die beste Voraussetzung, dass wir dies auch in
Zukunft tun können. Die humanitäre Tradition von Verlässlichkeit,
Katastrophenhilfe, Entwicklungshilfe, die Grosszügigkeit der
Schweizerinnen und Schweizer beim Spenden sind als wichtige Werte nicht
infrage gestellt. Zur Gewährung der Menschenrechte haben wir die von uns
gewählten Gerichte. Auf diese vertraue ich. Die im internationalen
Recht festgeschriebenen Menschenrechte und Grundrechte garantiert die
Schweiz in ihrer demokratischen Verfassung schon lange. Es ist enorm
wichtig, dass unsere Verhandlungspartner genau wissen, mit wem sie es zu
tun haben, und dass unsere Vertreter den Verhandlungsspielraum kennen.
Wir haben schon heute zunehmend europäisches Recht mit vielen
Verschärfungen zu akzeptieren. Wollen wir, dass sich diese Entwicklung
weiter zuspitzt? Die Christen werden weltweit immer mehr verfolgt, auch
in Europa. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Länder mithelfen,
unsere christlichen Werte zu stärken, im Gegenteil. Bleiben wir mutig
und bleiben wir bei dem, was wir haben: Freiheit und Frieden auch für
unsere nächsten Generationen.»
Marianne Streiff:
«Auch hier braucht es beides. Unsere Bundesverfassung kann jederzeit
auf demokratischem Weg geändert werden – ich erinnere nur an die
Diskussionen um Gott in der Präambel. Deshalb brauchen die darin
verankerten Menschenrechte – die ja zutiefst auf unseren christlichen
Werten aufbauen – einen übergeordneten Schutz ausserhalb unseres
Staatswesens. Den gewährleistet die Europäische Menschenrechtskonvention
(EMRK), der die Schweiz vollkommen selbstbestimmt beigetreten ist. Mit
der Initiative laufen wir Gefahr, dass wir die EMRK letztlich kündigen
müssten. Die Schweiz würde als Hüterin der Menschenrechte vollkommen
unglaubwürdig. Wir würden den europäischen Mindeststandard für
Menschenrechte deutlich schwächen. Und damit schwächen wir die Rechte
jedes einzelnen von uns: ob Kinder, Senioren, Konsumentinnen,
Arbeitnehmende oder Medienschaffende, ob Menschen mit Behinderung oder
eben Menschen mit religiösen Überzeugungen. Wir haben in der Schweiz
kein Verfassungsgericht. Mit Annahme der Initiative hätten wir bald auch
keine übergeordnete Instanz mehr, die zum Beispiel das Menschenrecht
auf Religionsfreiheit dauerhaft und umfassend schützen kann.»