Interview mit Thomas Schirrmacher

Jeder kann sich gegen Christenverfolgung einsetzen

Als Direktor des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit gehört Thomas Schirrmacher zu den weltweit führenden Experten in Sachen Christenverfolgung. Der Bonner Theologe und Soziologe setzt sich seit vielen Jahren aktiv für Menschenrechte und Minderheiten in aller Welt ein. Dabei ist er überzeugt, dass jeder Mensch der westlichen Welt Verantwortung übernehmen und Veränderung bewirken kann.

Livenet.ch: Sie kritisieren, dass in Deutschland kaum jemand um die Lage der Christen weltweit weiss. In welchen Ländern findet Verfolgung statt?
Thomas Schirrmacher: Hauptverursacher sind islamische Länder. Mit wenigen Ausnahmen sind auch postkommunistische Länder beteiligt, wie China, und Nordkorea, aber auch hinduistische Länder, wie Sri Lanka und Indien.

Wie sieht die Verfolgung aus?
Christenverfolgung ist jede Art der Eingrenzung von Religionsfreiheit. Das beginnt mit Desinformation, wie in der Türkei, wo es Gerüchte gibt, dass alle evangelikalen Christen für den CIA arbeiten. Die zweite Stufe ist Diskriminierung: Christen erfahren Benachteiligung im Bildungs- und Berufswesen, dürfen nicht auf bestimmte Schulen gehen, können nicht in den höheren Polizeidienst, oder in die Armee aufsteigen.

Die dritte Stufe ist die rechtliche Verfolgung. Das heisst, auf Grund von ungerechten Gesetzten kommt es zu Inhaftierungen. Die vierte Stufe ist physische Gewalt. In China, Indien, Saudi Arabien, oder Nordkorea gibt es keinen Christen, der nicht unmittelbar in Gefahr läuft, in die Mühlen der Christenverfolgung zu geraten. Zuverlässige Schätzungen, wie viele Christen momentan leiden, gibt es allerdings nicht.

Warum werden Christen verfolgt?
Meist ist die religiöse Frage nur vorgeschoben, fast immer hängt Verfolgung mit anderen Gründen zusammen. Ein Problem ist eine Form von Wiedererwachen des religiösen Nationalismus. Immer weniger Länder können eine "reinrassige Gesellschaft" aufweisen, und dann wird Wert auf Religion gelegt. Ein echter Türke muss Muslim sein und ein Inder ein Hindu. Eine Abkehrung von der Nationalreligion gilt als Verrat. Und plötzlich, nach Jahrzehnten der Ruhe, werden Christen in Indien auf offener Strasse gelyncht.

In etlichen Teilen der Welt wächst das Christentum in einem Tempo, dass es auch zahlenmässig zu einer Bedrohung wird. In China gibt es schätzungsweise 75 Millionen Christen, wahrscheinlich sogar mehr, und die Regierung kann sich nicht erklären, wo die herkommen. Diese unkontrollierbare Bewegung stellt für sie eine echte Bedrohung dar. Oder im Beispiel Indien: Hunderttausende Dalits, die im Kastenwesen nur für die Drecksarbeit zuständig sind, kommen zum christlichen Glauben. Das ist nicht zu übersehen und wird nicht einfach toleriert.

Stürzen Missionare diese neuen Christen nicht ins nächste Unglück?
Das würde ich umgekehrt sehen. So sind es sind es überwiegend christliche Missionare, die sich überhaupt um die Dalits kümmern. 90 Prozent aller Dalits haben ihre Schulbildung christlichen Schulen zu verdanken. Die Zeiten, wo nur Botschaft verkündet wurde, sind vorbei. Missionare bieten immer soziale Hilfe.

Dazu kommt, dass Massenbekehrungen nicht mehr auf Missionare aus der westlichen Welt zurückzuführen sind. In China gibt es gar keine westlichen Missionare. In Indien auch seit vielen Jahren nicht mehr; die "westlichen Christen" sind Nachkommen der Briten, die in Indien geblieben sind. In der Türkei geht die Missionsarbeit fast ausschliesslich von türkischen Christen aus. Dabei sind die Missionare sehr zurückhaltend, aber wenn jemand Christ wird, erfährt er den Glauben von jemandem, der die Probleme selbst nur zu gut kennt.

Gibt es die Hoffnung, dass sich die Umstände irgendwann ändern?
Leider gibt es eine Zunahme der Christenverfolgung weltweit, aber dann auch die Zunahme von Gegenreaktionen. Die Evangelische Allianz ist an der politischen Front sehr aktiv. Und wir erreichen auch etwas. Im Europäischen Gerichtshof ist beispielsweise entschieden worden, dass die Enteignung von Ortodoxen Kirchen unrechtmässig ist.

Was können die europäischen Christen tun?
Zunächst mal, aus christlicher Sicht: Beten. Und dann kann man Politiker und Unternehmer auf die Thematik hinweisen. Für Betroffene ist es schon eine grosse Ermutigung zu wissen, dass sich jemand für sie einsetzt. Inzwischen sind alle Deutschen Botschaften verpflichtet, Daten über Christenverfolgung zu sammeln. Das bringt die Länder natürlich unter Druck.

Warum Unternehmer darauf aufmerksam machen, was können die tun?
Viele Firmen haben internationale Geschäftsbeziehungen. In den 30 Ländern, in denen es die meiste Christenverfolgung gibt, besteht auch wirtschaftlicher Bezug. Natürlich soll man nicht sein eigenes Geschäft schädigen, aber Hilfe fängt schon da an, dass man in diesen Ländern darauf besteht, dass Mitarbeiter einen christlichen Gottesdienst feiern dürfen und einen Platz zum Beten bekommen.

In einigen Ländern mit Einschränkung gibt es eine Ausnahmegenehmigung für westliche Gottesdienste, eben für Touristen und Geschäftsleute. Diese Möglichkeit sollte von jedem Christen unbedingt genutzt werden, als Zeichen, dass die Nachfrage da ist. Natürlich kann keiner seine Mitarbeiter zwingen, in Gottesdienste zu gehen. Aber man kann sich kümmern, in welche Schulen die Kinder der Mitarbeiter gehen und dabei auch gleich fragen, ob sie auch an einem Gottesdienst interessiert sind. Wo es Christenverfolgung gibt, ist es der grösste Fehler, wenn der Westen kein Interesse daran zeigt.

Besteht für Unternehmer nicht auch eine gewisse Gefahr sich in diesen Ländern als "Christliches Unternehmen" zu outen?
Nicht, wenn man sich an die Spielregeln hält. Angela Merkel hat vor drei Jahren eine Liste von inhaftierten Christen mit nach China gebracht und nachgefragt, was mit diesen Menschen ist. Inzwischen sind die praktisch alle frei. Probleme hat sie dadurch nicht bekommen. Firmen machen ähnliche Erfahrungen. Die Regierungen verbieten Ausländern nicht ihre Religion. Für die Bevölkerung ist diese Duldung aber eine grosse Ermutigung.

Ethik und Wirtschaft interessieren auch in unserem Land. Sie haben dazu ein Buch mit dem Titel "Führen in ethischer Verantwortung" geschrieben.
Es geht in dem Buch darum, wie eine ethische Entscheidung abläuft. Es gibt absolute Normen, gegebene Situationen, Gewissens- oder Herzens-Entscheidungen und existenzielle Entscheidungen. Das Christentum und die Bibel kennen immer nur eine Entscheidung, die auf die konkrete Situation eingeht. Das gilt auch für Führungskräfte, vor allem in der Wirtschaft. Oft ist man in der Zwickmühle, eine grosse Entscheidung ist aber nicht das Ende der Ethik. Es geht um die Masse der alltäglichen Entscheidungen und den Unterschied zwischen guten und schlechten Entscheidungen.

Angenommen, man ist aber Personalchef und muss 200 Leute entlassen, dann müssen Werte her. Wen soll ich entlassen? Das ist Ethik. Es gibt immer wieder unangenehme Situationen und ich bin trotzdem gefragt, das Beste daraus zu machen. Viele Unternehmer und andere Führungskräfte fühlen sich ethisch völlig im Stich gelassen.

Ethik ist gut. Siegt aber nicht letzen Endes immer der Finanz-Faktor?
Keine Frage, Werte vertragen sich oft nicht mit kurzfristigen Gewinnen, und Ehrlichkeit steht einem dafür im Weg. Langfristig hat man aber mit Werten immer die besseren Karten. Der Mensch ist darauf ausgerichtet, Gewinn zu machen, das hat Gott so eingerichtet. Die Frage ist nur wie. Jemand, der für seine eigene Stelle alles opfert, der kann kurzfristig viel Geld machen, langfristig wird er nicht am Markt am bleiben.

Was dabei rauskommt sieht man ja: Noch nie wurden Stellen und Posten so häufig umbesetzt wie heute. Am Schluss trägt keiner die Verantwortung, das Unternehmen und die Wirtschaft leiden darunter. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Sobald es um eine längerfristige Geschichte geht und man solide die Zukunft planen möchte, sind die christlichen Werte das tragende Element: Ehrlichkeit. Zuverlässigkeit. Und ethische Verantwortlichkeit.

Datum: 07.10.2008
Autor: Miriam Hinrichs
Quelle: Livenet.ch

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