Keine digitale Kindheit

Was unsere Kleinsten brauchen

Die ehemalige Kindergärtnerin Maria Luisa Nüesch-Gmünder widmet sich seit 40 Jahren kleinen Kindern und ihren Eltern. In Workshops, Vorträgen und Artikeln schult sie Menschen für die Bedürfnisse von Babys und Kleinkindern. Verbundenheit und eine anregende Umgebung sind dabei das A und O. Und: Smartphone-freie Zonen haben sich bewährt.

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Maria Luisa Nüesch-Gmünder
Sie sind Mitglied des Vereins Spielraum-Lebensraum in Grabs SG. Was bieten Sie dort an?
Maria Luisa Nüesch-Gmünder: Wir führen um die zehn Eltern-Kind-Gruppen, drei Spielgruppen, die Halbtages-Kita «Kinderstube» sowie den Sandraum «Sandbank». Es gibt Einführungs-, Weiterbildungs- und Ausbildungskurse für Eltern-Kind-Gruppenleiterinnen, für Eltern und für Kita-Teams sowie bindungsstärkende Kurse für schwangere Mütter.

Wie kam es zu diesem besonderen Anliegen?
Schon als Kindergärtnerin hatte ich ein besonderes Interesse an Kindern mit Schwierigkeiten. Daraus resultierte das Buch «Spiel aus der Tiefe. Über die Fähigkeit der Kinder, sich gesund zu spielen». Es hat vielen Kindergärtnerinnen und Eltern wieder dazu verholfen, ihren Kindern das freie, selbsterfundene Spiel zu ermöglichen. Schon damals habe ich erkannt, dass mit der Präventionsarbeit viel früher begonnen werden muss. Wir müssen bei der frühesten Kindheit beginnen, denn dort wird das Fundament für jegliche spätere Entwicklung gelegt.

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Im Sandraum «Sandbank» vertiefen sich eineinhalb- bis zweijährige Kinder problemlos zwei Stunden im Spiel.
Was motiviert Sie zu Ihrem Engagement?
Ich hatte schon als junge Berufsfrau deutliche Unterschiede zwischen Kindern mit und ohne Fernsehkonsum beobachtet. Der negative Einfluss der digitalen Medien zeigt sich nun noch viel stärker. Wir haben immer mehr Kinder, die nicht mehr fähig sind, ganz aus sich heraus und ohne Vorgaben zu spielen. Hunderte von Apps gewöhnen bereits kleinste Kinder daran, unterhalten zu werden. Sie werden abhängig. Denn schon die «Baby-Programme» auf den Apps sind so konzipiert, dass sie das Belohnungssystem stimulieren. Das macht süchtig. Das Verführerische daran ist, dass es Kinder ruhigstellt.

Was ist der Trugschluss?
Nicht wenige Eltern sind stolz auf die frühen «Fähigkeiten» der Kinder an Bildschirmen und meinen, «Wischen» mache klug. Dabei lernen Kinder nur über Sensorik: Sie müssen zuerst alles begreifen. Sie brauchen die echte Welt und sehr viel freie, ungestörte Spielzeit, um sie in allen Facetten zu entdecken. Das macht ihr Leben reich. Jede Stunde am Smartphone ist gestohlene Spielzeit, die sich nicht nachholen lässt. Kinder schaffen sich ihre «Lernprogramme» selber unaufhörlich, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Kinderärzte haben immer häufiger Termine wegen Kindern, die extrem unruhig sind und nicht mehr selber spielen können.

Was kennzeichnet viele moderne Eltern?
Viele Eltern sind es nicht gewohnt, mit Babys umzugehen. Im Beruf und in der Freizeit sind digitale Medien das vorherrschende Element. Gerade die Beschäftigung mit Smartphones entwickelte sich explosionsartig. Die (Aus-)Wirkung auf die Kinder wird kaum hinterfragt und der Handy-Konsum der Eltern wird auch nach der Geburt des Kindes nicht gemässigt. Hebammen äussern sich besorgt darüber, dass diese Geräte schon während (!) und nach der Geburt sehr viel Unruhe bringen. Manche Eltern posten bereits ein Bild ihres Neugeborenen, bevor sie es überhaupt selber richtig angesehen haben und mit ihm in Kontakt traten.

Was ist den Eltern oft nicht bewusst?
Dass die erste Stunde nach der Geburt für die spätere Bindung äusserst wichtig und prägend ist. Gelingt sie nicht, entwickeln Babys Schlaf-, Ess- und Verhaltensstörungen. Das hat auch die BLIKK-Studie der deutschen Kinderärzte ergeben. Zudem ist das Sprechen mit dem Kind zentral. Heutige Anforderungen an junge Eltern können nicht verglichen werden mit früheren Zeiten. Sie brauchen Unterstützung, damit sie Sicherheit und Geborgenheit vermitteln und auf die Signale des Kindes eingehen können. Dann haben sie notfalls auch den Mut, gegen den Mainstream zu schwimmen.

Gibt es weitere Fehler, die man vermeiden könnte?
Eltern sind oft schon in der ersten Zeit zu viel mit dem Baby unterwegs. Dadurch haben Kinder viel zu viele Sinneseindrücke. Sie werden nervös und unruhig. Leider sorgen Mütter dann oft erst recht für Unterhaltungsprogramme. Sinnvolle Spielsachen machen es den Kindern möglich, aktiv und kompetent zu sein. Einfache Gegenstände aus dem Haushalt wie Körbe, kleine Gefässe oder Dinge, die Tasterlebnisse bieten, sind für die Kleinsten interessant. Sie wollen sich diese Gegenstände aber selber holen und strengen sich gerne dafür an. Die einfachen Spielsachen in unseren Spielräumen regen Eltern oft an, es daheim entsprechend zu verändern und grosszügig wegzuräumen. Zu viele Spielsachen verderben das Spiel. Batteriebetriebene Spielsachen erzeugen passive Kinder.

Was ist zentral bei Ihren Elternschulungen mit Kleinkindern?
Wir sprechen in der «Wiegestube» nicht über die Köpfe der Kinder hinweg. Dafür gibt es die Begleitabende. In den Gruppen beobachten die Eltern, wie die Leiterin die Kinder begleitet. Die Babys und Kleinkinder sollen sich frei bewegen und beschäftigen können. Frei heiss ungestört. Es wird nicht animiert, nichts vorgemacht. Wichtig ist, dass dem Entwicklungsstand der Kinder entsprechend der Raum vorbereitet wird. Die Kinder spielen und werden durch Blickkontakt bestätigt. Dabei entwickelt das Kind Konzentrationsfähigkeit, Enthusiasmus und Selbständigkeit – alles Fähigkeiten, die ihm später zugutekommen werden. Den Kindern wird so eine ungestörte und harmonische Bewegungs- und Spielentwicklung ermöglicht. Diese hängt stark mit der Sprachentwicklung zusammen.

Worauf achten Ihre Betreuerinnen?
Es geht darum, die Eltern zu stärken, ohne sie zu belehren. Lernen in der Praxis, ist die Devise.

Zur Person

Maria Luisa Nüesch-Gmünder (1949), verheiratet, Buchs SG, ursprünglich Kindergärtnerin; heutige Tätigkeiten: Autorin, pädagogische Aufsicht der Kita «Kinderstube», Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung Spielraum-Lebensraum. Diese setzt zurzeit das Bauprojekt «Storchennest» um: eine neue, kindgerechte Heimat für die Angebote des Vereins.

Zum Thema:
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Datum: 01.04.2019
Autor: Lisa Leisi
Quelle: EDU Standpunkt

Kommentare

Danke für diesen Beitrag. Es ist mir einerseits bewusst, dass (zu viel) Smartphone-Aktivität nicht nur für mich selbst negative Folgen hat. Aber andererseits fragt man sich ja auch schnell: "Und was ist die bessere Variante?" Mit den Hinweisen von Nüesch-Gmünder habt ihr nicht nur das negative aufgezeigt, sondern auch positive Anstöße gegeben. Das finde ich super und echt wichtig.

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