Abschiedsinterview

Der Präsident der Evangelischen Allianz tritt zurück

Am 8. Juni hat Allianzpräsident Kurt Spiess sein Amt offiziell abgegeben. Es war ihm ein Anliegen, dass Christen durch die Allianzbewegung gemeinsam den Weg finden. Das Institutionelle habe ihm dagegen manchmal Mühe gemacht, gesteht er im Gespräch mit Thomas Hanimann. Das Gespräch fand kurz vor dem 8. Juni statt.

idea: Als Sie vor drei Jahren angefragt wurden, das Präsidium der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA) zu übernehmen, warum haben Sie da zugesagt?
Kurt Spiess: Es ist damals fast alles zusammen gekommen. Der Tod des früheren Zentralsekretärs Frank Probst, der Rücktritt des SEA-Präsidenten und des Vorstandes. Wir waren damals in Zürich zusammen, ein paar ältere Herren, und diskutierten darüber, wer nun das alles übernehmen soll. Alle anderen sagten ab. Ich hatte stark den Eindruck, dass dies nun der Moment sei, wo ich die Aufgabe übernehmen sollte.

Die finanziell damals besonders schwierige Situation der SEA könnte Sieauch abgeschreckt haben. Woher hatten Sie diesen Mut, trotzdem zuzusagen?
Gott hat mich immer wieder in schwierigen Situationen als "Trouble-Shooter" gebraucht. Ich hatte den Eindruck, dass jetzt der Moment da sei und hatte darum eigentlich keine Angst. Ich habe das als Chance angesehen.

idea: Was war Ihr Beitrag zur Rettung der Allianz?
Ich sah meine Aufgabe darin, neues Vertrauen aufzubauen. Vor allem wollte ich die Beziehungen pflegen. An vielen Treffen mit den örtlichen Allianzen und anderen Organisationen versuchte ich, die Vision des ureigensten Auftrages der Evangelischen Allianz zu vermitteln. Beim Besuch von zahlreichen Sektionen merkte ich: Viele haben wieder Freude und Vertrauen gewonnen.

idea: Nun wird manchmal kritisiert, dass Sie ökumenisch sehr offenherzig waren. Sie waren auch bereit, mit Charismatikern und Katholiken zusammen zu marschieren. Haben Sie ein anderes Kirchenverständnis als die Mehrheit der Mitglieder der Allianz?
Nein, ich habe eben nie ein Kirchenverständnis im Sinne einer kirchlichen Institution mitgebracht. Für mich zählt der Leib Jesu. Die Frage ist nicht, wo das Lager institutionell angesiedelt ist, sondern ich suchte meine Brüder und Schwestern. Ich fand auch bei Katholiken Menschen, die Jesus lieb haben und eine Beziehung zu ihm pflegen. Sie sind geistlich erstaunlich lebendig unterwegs. Diese dürfen wir nicht ablehnen. Den Begriff "evangelisch" habe ich nie institutionell definiert sondern vom Inhalt her. Es geht um den Menschen, der evangeliumsgemäss lebt.

idea: Welches war Ihr grösster Erfolg in Ihrer Zeit als Präsident?

Spiess: Ich konnte feststellen, wie in den Allianzsektionen an vielen Orten Verbindlichkeit wuchs. Gemeindeleiter und Prediger fanden wieder zusammen, treffen sich heute regelmässig zum Essen, Austausch und Gebet. Das war für mich eine erfreuliche Erfahrung.

idea: Und der grösste Misserfolg?
Der ist dort, wo Leute sich unnötig abgrenzen. Als Belastung empfand ich manchmal die Spannung zwischen dem, was ich als Pionier in meinem Herzen empfand und dem Weg zwischen den Institutionen. Ich denke da an den Gebetstag in Biel. Da habe ich in einer Retraite die Entstehung miterlebt. Für andere war es nicht einfach, dies so kurzfristig nachzuvollziehen.

idea: Wie haben Sie die SEA in dieser Zeit erlebt? Wo liegen ihre Stärken und Schwächen?
Es ging darum, dass man Wege miteinander findet. Wir (der Präsident und der Zentralsekretär) haben uns wirklich prima ergänzt. Durch die Arbeit im Sekretariat geschieht viel Hintergrundarbeit, die den Gemeinden zugute kommt. Manchmal sind aber kurzfristige, spontane Entscheide nötig. Dort hätte ich mir als Präsident mehr Freiheit gewünscht. Strukturen sind nötig, doch müssen wir auch Herzblut hineingeben können.

idea: Wo liegen Chancen für den Allianzauftrag?
Dass wir den Reichsgottes-Auftrag noch mehr wahrnehmen. Dass wir merken, dass es nicht um die eigene Institution geht, sondern um die Frage: Wie kann ich dem Gesamten dienen?

idea: Sie hatten als Leiter der St-Galler Allianz schon Erfahrungen. Wenn man die Gemeinden von heute in individualistischem gesellschaftlichen Umfeld sieht, kann man diese überhaupt noch für eine Zusammenarbeit gewinnen?
Ja, ich bin überzeugt davon. Aber es braucht immer zwei, drei Leute, die dieses Anliegen besonders tragen. Ich erlebte das sowohl in St. Gallen wie auch in Winterthur. Wenn die Beziehungen stimmen, fängt es an zu funktionieren. Gemeinden können sich mit ihren Stärken und Schwächen ergänzen. Die Leute sehnen sich im Tiefsten danach und wünschen sich ein gemeinsames Erleben. Schwieriger ist es oft, die Gemeindeleitungen zu gewinnen. Bei ihnen steht manchmal die eigene Denomination zu stark im Vordergrund.

Idea: Höhepunkte der Allianzbewegung sind die jährlichen Gebetswochen. Wofür haben Sie gerade in diesem Jahr am intensivsten gebetet?
Mir wird das Gebet für die Schweiz immer wichtiger. Damit meine ich nicht die Institution mit diesem Namen, sondern das Grundanliegen. Ich bete besonders dafür, dass in unserem Land nochmals ein Aufbruch geschehen darf, dass die Gemeinden wachgerüttelt werden. Auch dass die Liebe untereinander wächst und dadurch das Zeugnis gegen aussen stärker wird. Je mehr wir von Herzen eins sind, um so glaubwürdiger werden wir in unseren Dörfern und Städten. Menschen ausserhalb der Gemeinde werden nur überzeugt, wenn sie merken, dass es hier Liebe und ehrliche Zusammenarbeit gibt.

idea: Gebetsbewegungen interessierten Sie schon seit einiger Zeit. Auch sind Sie einmal betend um einen Teil der Schweiz marschiert. Kann man die Schweiz freibeten, damit wie in Jericho die Mauern fallen?
Freibeten ist etwas hoch gegriffen. Aber ich glaube, dass Menschen, die dieses Anliegen tragen, Zeichen setzen können. Zeichen können den Ernst der Sache unterstreichen. Man betet und fastet ja nicht, um Gott zu zwingen, etwas zu tun. Aber wenn Menschen mehr wirkliche Leidenschaft für das Gebet entwickeln, erhört Gott viele von unseren Bitten. Ich machte manchmal Stadtumrundungen, Hügelgebete. Ich meine, das hat seine Bedeutung, wenn das Herz stimmt. Mich freut es, wenn Menschen mit einem tiefen Anliegen das auch äusserlich zum Ausdruck bringen.

idea: Sie haben immer wieder an grösseren Evangelisationsprojekten (Credo 91, Verkauf der Bibel in der Migros) teilgenommen. Daraus ist nicht eindeutiges Wachstum entstanden. Was fehlt eigentlich den Schweizer Christen?
Es ist mir klar, dass etwa durch Bibelverkauf nicht gleich sichtbares Wachstum entsteht. Mich freute, dass so die Bibel unter das Volk gekommen und thematisiert worden ist. Wir konnten auch mit namhaften Leuten darüber sprechen und sie spürten unser Anliegen. Evangelistische Aktionen sind punktuell. Entscheidend ist die Möglichkeit, als Christen immer wieder etwas gemeinsam zu unternehmen. Das gemeinsame Erleben hat besonders grosse Wirkung zuerst auf Christen.

idea: Die Veränderungen in der Gemeindelandschaft haben Sie in den letzten Jahren aufmerksam verfolgt. Was ist anders geworden?
Die Offenheit. Es gibt weniger Grabenkämpfe und Abgrenzungen. Das war auch mein Ziel. Wer immer abgrenzt, verkümmert mit der Zeit. Wer offen ist für Gottes Wirken und auch hilft, das Gute zu fördern, der kann von anderen viel lernen. Das bewahrt auch vor unnötigen Diskussionen und Spaltungen. Schwieriger ist es dagegen für Pfarrer und Prediger geworden. Sie brauchen heute mehr Führungsbegabung. Man erwartet mehr Fähigkeiten im Umgang mit Menschen. Die Anforderungen sind eindeutig höher. Da leiden einige darunter. Wer nicht ein gewisses Führungs-Charisma mitbringt, kann in grosse Schwierigkeiten kommen. Darin ist eine Herausforderung, die auch von den Ausbildungsstätten mehr und mehr erkannt worden ist.

idea: Sie werden sich als aktiver Christ jetzt nicht einfach in den Ruhestand setzen. Was sind Ihre nächsten Projekte?
Aus gesundheitlichen Gründen habe ich meine Projekte fürs Erste einmal aufs Eis gelegt. Ich habe aber trotzdem noch einiges auf dem Herzen. Ich möchte mich besonders für Menschen in der dritten Lebensphase engagieren. Ich bin auch im seelsorgerlichen Gespräch mit Predigern, begleite einige junge Menschen, kümmere mich um Nachbarn. Es gibt viele Dinge, die sich einfach so ergeben. Aber ich werde wohl auch in Zukunft von Allianzgruppen da und dort mal eingeladen. Beziehungsarbeit mache ich sehr gerne und da bleibe ich wohl dran.

Datum: 22.06.2002
Autor: Thomas Hanimann
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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