Theologieprofessor Ralph Kunz

Staunen über die Geheimnisse Gottes

Ralph Kunz ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich. Wie er zum Glauben kam und akademische Karriere machte, ist ungewöhnlich. Wir dokumentieren auszugsweise seine Geschichte, die jetzt in einem Buch erschienen ist. Sie wirkt ernst, eindringlich und witzig zugleich.

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Ralph Kunz
Eigentlich stamme ich nicht aus einem «frommen» Haus. In der Familie Kunz entschied man sich für einen «gekröpften Anflug» in der Weihnachtszeit. Erstens war es dann stimmungsvoll. Zweitens konnte man mit gutem Gewissen an der Sonntagsschulweihnacht mitfeiern und einen Stollen mit nach Hause nehmen. Neben dem Basar war die Weihnachtsfeier der zweite Höhepunkt im Kirchenjahr. Man sang, betete und hörte eine Rede. Aber am interessantesten war, wie Sigrist Maag es schaffte, mit Zündschnüren die Lichter am Baum anzünden. Vermutlich ist das heute verboten.

Unser Pfarrer war durchaus eine Leuchte. Er hatte gute Kontakte zur Basler Mission und zur jüdischen Gemeinde in Zürich und war – und ist immer noch – ein guter Theologe, der auch an der Universität hätte Karriere machen können. Ich ging gern in den Konfirmandenunterricht. Einerseits waren es die Diskussionen, die mich interessierten, andererseits die Konfirmandinnen. Am eindrücklichsten waren aber die Gäste, die unser Pfarrer eingeladen hatte. Sie erzählten aus ihrem Leben. Zum Beispiel ein gebürtiger Südtiroler, der im Zweiten Weltkrieg mit der Wehrmacht nach Russland musste und von seinen Vorgesetzten wegen seines katholischen Glaubens gepiesackt wurde. Das Gebet gab ihm Kraft. Er wurde wunderbar bewahrt. Dieses Zeugnis ist mir eingefahren. Ich spürte etwas Echtes und Bewegendes.

Es kam anders...

Vielleicht wäre es dabei geblieben und Kirche wäre eine – durchaus positive – Erfahrung der Kinder- und Jugendzeit gewesen. Es kam anders. In der Mittelschule befreundete ich mich mit dem Sohn eines Pfarrers, der heute selber Pfarrer ist. Er lud mich ein, den Gottesdienst in seiner Gemeinde Seebach zu besuchen. Alle vierzehn Tage wurde da in der alten Dorfkirche ein etwas spezieller Gottesdienst gefeiert. Ich war denn auch überrascht, als ich zum ersten Mal in meinem Leben eine rappelvolle Kirche erlebte. Seebach war halt anders. Das ganze Ambiente war anregend und bewegend. Der CVJM machte mit, es wurde gesungen und Klaus Fürst – der Vater meines neuen Freundes – predigte. Es hat mich von Anfang an voll erwischt. Es war eine Spontanbekehrung. Das Wort hat mich gefunden. Der Ruf hat mich erreicht.

Es war in den 1980er Jahren. Die Gemeinde war Teil der charismatischen Bewegung. Es gab auch Kontakte zu freikirchlichen und katholischen Charismatikern. Heilungen, Segnungen, Fallen im Geist und Zungenrede waren Themen. Aber alles geschah in einer grossen Freiheit und im seelsorglich behutsamen Umgang mit den Nebenwirkungen. Es gab relativ wenig kollaterale Schäden – von wegen Zündschnüren und so. Es war eine starke Erwartung in der Gemeinde. Spürbar wurde sie im Lobpreis und immer auch in der Verkündigung. Einzelne Predigten haften mir immer noch im Gedächtnis. Ich habe erlebt, was «vollmächtiger Dienst» ist, auch wenn ich den Ausdruck ziemlich problematisch finde. Jedenfalls bin ich seither geheilt von der helvetisch-protestantischen Durchschnittslähmung.

Kritisch theologisieren – ohne Besserwisserei

Ein Zweites, was ich dieser Aufbruchsbewegung verdanke, ist die Einsicht, dass geistliche Leidenschaft und verantwortliche Leiterschaft sowie kritische Theologie sich gut ergänzen. Es gibt einen grassierenden Anti-Intellektualismus in christlichen Kreisen, der das Nachdenken und Nachfragen von vornherein als Teufelswerk betrachtet. Dabei gibt es im geistlichen Sumpfland ziemlich seichte Tümpel. Ich entschied mich, Theologie zu studieren.

Die folgenden Jahre an der Universität waren meine «Sturm und Drang»-Zeit. Ich ging nach Basel an die Kirchlich Theologische Schule (KTS) und badete im Säurebad der historischen Kritik. Es war ätzend. Mir wurde dann schnell klar, dass sich mit den neu entdeckten Methoden Wege auftun, die in den frommen Kreisen, in denen ich verkehrte, verschrien waren. Das reizte mich noch mehr. Um es mit Kurt Marti zu sagen: «Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin mit diesen Methoden, und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man methodisch vorginge.»

Und ich ging und wurde für meine Umgebung eine Zeit lang ätzend. Ich wusste alles besser. Aber auch dafür bin ich dankbar. Denn eines Tages realisierte ich, dass die Bibel mit Besserwissern nicht viel anfangen konnte. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Die Heilige Schrift ist von Menschen geschrieben, die in einer völlig anderen Zeit und Kultur lebten und ich bin nur ein Gast in dieser fremden Welt. Durch das Erlernen der alten Sprachen erschloss sich mir ein Zugang zu fernen biblischen Kontinenten. Aber mit jeder Entdeckung wuchs der Respekt vor dem unheimlichen Planeten Bibel. Welcher Reichtum! Ein Leben reicht nicht aus, um die Tiefe, Höhe und Weite der Bibel nur annähernd zu erkunden. Ich habe mich der Schrift verschrieben.

Der «Weg zum Dienst»

Je tiefer ich mich auf die akademische Theologie einliess, desto stärker wuchs der Wunsch, mich anderen mitzuteilen. Ich formuliere es absichtlich zwiespältig. Denn zum Weg in den Dienst gehört auch eine rechte Portion Narzissmus. Natürlich ist der Selbstbespiegelungs- und Selbstentfaltungsdrang eine charakterliche Schwäche, aber wenn der Narzissmus gedrosselt und gestaltet wird, kann er auch zur Gabe werden.

Über meine Wohngemeinschaftskollegen in Basel lernte ich Taizé kennen. Und wieder war da ein anderer Duft! Diesmal war es eine Mischung aus Barackenluft, Zelt, Sommer, Erde, Kerzen und Weihrauch. Es waren nicht nur die vielen Menschen und inspirierenden Kontakte – es war der Geist, der mich bewegte. Weniger individualistisch und erwecklich, stärker kontemplativ und ökumenisch. In Taizé habe ich dann eine der stärksten Verbindungen des Glaubens kennen gelernt. Die Kombination von Mystik und Widerstand.

Auch die Anbetung war anders: leise, eindringlich, nachhaltig und tief. Im Burgund habe ich den Choral und den Genfer Psalter (neu) kennen gelernt. Was wäre die Kirche ohne den Schatz ihrer liturgischen Traditionen des Westens und des Ostens? Es gibt eine Form von Traditionsvergessenheit und Liturgieverachtung in unseren Gemeinden, die mir im Herzen wehtut. Taizé hat mir geholfen, mich gegen die «McDonaldisierung» unserer Gottesdienste zu wehren.

Einblicke in die Mega-Churches

Lustigerweise begriff ich aber erst im Land der Burger, wie wertvoll kulturelle Diversität in religiösen Dingen ist. Ich studierte ein Jahr am Fuller Seminary in Pasadena, USA. Im Unterschied zu den meisten theologischen Ausbildungsstätten in Europa, die ich kenne, war am Fuller ein buntes Gemisch der Denominationen vorherrschend. Nomen est omen. Im englischen Sprachraum hat «Denomination» einen anderen Klang. Es hat nicht die Schwere der Konfession. Schliesslich hat keine Kirche den Status einer Landeskirche. Dafür gründet man in der Neuen Welt dann und wann auch einmal eine neue Kirche. Ich war 1990 in Kalifornien. Vineyard war auf dem Höhepunkt, Schullers Cathedral Church ein Geheimtipp und Willow Creek «the rising star».

Ich erinnere mich an einen freundlichen Besuch von zwei Herren aus der Schweiz. Der eine hiess Strupler und der andere Albietz. Sie waren auf Church-Sightseeing-Tour in den USA und haben sich für das erfolgversprechendste Modell auf dem Markt begeistert. Strupler hatte dann die Vision von einer Kirche für Englischsprechende in Downtown Zürich nach dem Vorbild von Willow Creek. Sie sollte International Christian Fellowship (ICF) heissen. Was für ein seltsamer Name…

Als ich wieder nach Hause ging, wollte ich das Studium abschliessen und ins Pfarramt gehen. Es kam anders. Ich wurde von Werner Kramer, Professor für Praktische Theologie, angefragt, ob ich sein Assistent werden wolle. Ich wollte, doch zuerst ging es ins Vikariat. In Burgdorf genoss ich die Schule eines exzellenten Lehrmeisters. Von Alfred Aeppli lernte ich unter anderem, was ich bisher nur vom Hörensagen kannte: eine systematische Arbeitsorganisation. Ein Jahr war ich – ganz altmodisch – im Pfarrhaus zu Gast. Ich war ein Teil der Familie und bin bis heute dankbar für die wunderbare Gastfreundschaft. Die gemeinsame Zeit unter demselben Dach mit der sechsköpfigen Familie war eine prägende Erfahrung. Ich habe Einblick erhalten in das Innenleben eines Systems, das den Spagat zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit bewältigen muss.

In den akademischen Gefilden

In den kommenden Jahren bewegte ich mich in akademischen Gefilden. In der Dissertation beschäftigte ich mich mit der Theorie des Gemeindeaufbaus. Das Thema hat mich seither nicht losgelassen. Das Interesse führte dazu, dass ich nach der Promotion und Habilitation eine Stelle als Fachmitarbeiter bei den gesamtkirchlichen Diensten der Landeskirche antreten konnte. Es war eine ideale Kombination von 50 Prozent Gemeindepfarramt und 50 Prozent Fachberatung. Aber es ging nicht lange, folgte ich wieder dem Ruf der Alma Mater, wo ich seit über zehn Jahren als Lehrer und Forscher tätig bin.

In einem weiteren (oder tieferen) Sinn verstehe ich meinen Beruf als Kirchendienst. Ich halte mich da an die Ämterlehre Calvins, der neben dem Amt der Ältesten, der Diakonen und der Wortdiener auch dasjenige der Lehrer der Kirche kennt. Man kann den Genitiv so oder so hören. Ich sehe mich in erster Linie als ein Lehrer, der von der Kirche lernt und nicht ein Lehrer, der die Kirche belehrt. Denn die Kirche ist kein Gegenstand, den man behandeln oder belehren könnte. Als Leib Christi ist sie ein Gegenüber, zu dem ich mich verhalte. Schliesslich ist Jesus Christus das Haupt der Gemeinde. Also ist Jesus Christus auch der erste Lehrer, Diakon, Leiter und Hirte der Kirche.

Meine Faszination

Meine Herausforderung als Universitätslehrer sehe ich darin, das Licht der kritischen Vernunft als Schein zu entlarven – aber diesen Lichtschein zugleich für die Selbstunterscheidung zu nutzen! Theologie entsteht, wenn der Glaube uns lehrt, die Geister zu unterscheiden. Und die Geister gebärden sich manchmal sehr religiös. Der Weg in den Dienst bleibt darum ein Lernweg. Und das ist gut so. Wir bleiben auch als Lehrende Lernende, als Führende Geführte und als Berufene in der Verantwortung. Deshalb erreichen wir auf unserem Weg in den Dienst keine höhere Ebene, von der wir hinunterschauen auf das Erreichte – höchstens eine Tiefe, die uns neu staunen lässt über die Geheimnisse Gottes (Die Bibel, 1. Korinther Kapitel 4, Vers 1).

Zur Person:
Ralph Kunz, Jg. 1964, ist verheiratet mit Andrea. Sie haben zwei Töchter. Nach der Matura studierte er in Basel, Los Angeles und Zürich. Nach einer Zeit als Assistenz, arbeitete er als Fachbeauftragter für Gemeindeaufbau und Pfarrer der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. Seit 2004 ist Ralph Kunz Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich.

Zum Buch:
Der beste Job der Welt (Schweiz / Deutschland)

Zum Thema:
Leiterforum von SEA und VFG: Wie die Bibel an Einfluss gewinnen kann
Interview mit Prof. Ralph Kunz: Was sagt ein Theologe den Wirtschaftsleuten?
Traumberuf Pastor!?: Sören Koch: «Aber Gott hatte noch mehr auf dem Plan...»

Datum: 25.01.2016
Autor: Ralph Kunz
Quelle: Livenet/ Neufeld/ IGW

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