Schweizer Kommunität

Das «Wunder von Berlin»

Vor drei Jahren zogen zwei Familien der evangelischen Kommunität Don Camillo vom Schweizer Jura nach Berlin, um dort das Stadtkloster Segen aufzubauen.

Inzwischen ist im Prenzlauer Berg eine neue spirituelle Oase entstanden. Die Schweizer haben in kurzer Zeit Erstaunliches geschaffen.

Berlin, Prenzlauer Berg. Lärmend rauschen Autos auf der vierspurigen Schönhauser-Allee Richtung City, im Hintergrund funkelt die Kugel des Fernsehturms am Berliner Himmel. Ein Strassenzug weiter trinkt Szene-Volk in der angesagten Kastanienallee ihren Latte Macchiato. Hier, mitten in einem der beliebtesten Bezirke der deutschen Hauptstadt, befindet sich die evangelische Segenskirche. Ihr schlanker Kirchturm ragt wie eine Zündnadel aus den sanierten Gründerzeithäusern.

Erfüllende Stille finden

Neugierig durchqueren Gäste an diesem Morgen den grossen Torbogen des roten Klinkerbaus und fragen sich erst: Ist in dieser Kirche ein geistliches Leben möglich? Gebäude und Innenhof wirken düster. Wer jedoch will, das spüren die Besucher rasch, kann hier mitten in der lärmenden Stadt erfüllende Stille finden. Möglich macht dies eine Gruppe von Schweizern, die hier das erste evangelische Stadtkloster gründeten.

Vom Jura nach in den Prenzlauer Berg

Im Innenhof empfängt Georg Schubert die Gäste und zeigt in einer Führung das verwinkelte Kirchengebäude aus dem Jahre 1908. Den Zweiten Weltkrieg hatte das Gebäude nahezu unbeschadet überstanden, die Vernachlässigung durch den SED-Staat nagte hingegen an der Bausubstanz. Noch 2003 war die Segenskirche das marodeste Gotteshaus im Prenzlauer Berg.

Auf der Suche nach einer Nachfolge

Der Mittfünfziger erzählt seinen Gästen, wie «Don Camillo» den Sprung mitten ins quirlige Zentrum Berlins wagte: Die Gemeinde war um die Jahrtausendwende bereits stark überaltert und ausgedünnt, als ihr Pfarrer Gisbert Mangliers sich auf der Suche nach einer Kommunität machte, die diesen Ort mit neuem Geist erfüllen sollte.

Durch einen Tipp erfuhr er von der Gemeinschaft Don Camillo, die mit zwölf Familien in Montmirail nahe Neuchâtel eine Gütergemeinschaft unterhält.

«Einige Mitglieder der Kommunität Don Camillo spielten längst schon mit dem Gedanken, im Ausland eine Dependance zu gründen. Das Projekt kam zur richtigen Zeit und begeisterte uns», sagt Georg Schubert, die der die Projektleitung übernahm.

2007 kaufte die Kommunität die Segenskirche, zwei Schweizer Familien zogen an die Schönhauser Allee 161. Ein neuer Lebensabschnitt begann.

Leben auf der Baustelle

Hier soll ein Ort entstehen, dessen Spiritualität auf das ganze Viertel ausstrahlt, so die Vision. Seit ihrer Ankunft jedoch lebt die Gemeinschaft auf einer Baustelle. Auf den Stufen bricht das alte DDR-Linoleum durch, immer wieder fällt der Strom aus. Die Sanierungskosten belaufen sich auf umgerechnet über 4,5 Millionen Franken, ein grosser Teil muss aus Spenden finanziert werden.

Im Büro von Georg Schubert liegen Papiere, die sich um Förderanträge, Sponsoren und Kredite drehen. Unter der Leitung von Felix Dürr hat sich hier jedoch einiges getan. Arbeiter sind daran, Kabel zu verlegen, Dachziegel zu erneuern und alte Fassadensteine mit Sandstrahlen zu reinigen.

«Hallo! Schön, dass du kommst!», begrüsst Felix Dürr einen Mann, der Zement verarbeiten will. Er ist einer der Freiwilligen, der hier Hand anlegt.

Die Schweizer werden für ihren Mut bewundert. Georg Schubert sagt dazu: «Wenn einer mit über 50 bewusst eine gesicherte Existenz in der Schweiz aufgibt, um nach Berlin zu ziehen, ist die Neugier natürlich gross.» Dieser Erfahrung macht auch Urs Trösch, der die Klosterwerkstatt betreut und für Berlin seinen Job bei der SBB an den Nagel hing.

Spirituelle Oase

Auch im Innern des Stadtklosters ist Leben eingezogen. Die aus Basel stammende Corinne Dürr versorgt derweil ihre Kinder am Mittagstisch. Mit geschickter Hand sorgt sie dafür, dass es in den Räumen des Stadtklosters wohnlicher wird. In einer ruhigen Minute steht sie auf dem Balkon mit Blick auf die Schönhauser-Allee und sagt: «Es braucht viel Idealismus, um hier durchzuhalten.»

Oftmals vermisst sie die Bergkulisse von Eiger, Mönch und Jungfrau, die sie von Montmirail aus sehen konnte. Stattdessen trifft sie hier jetzt auf Schilder wie «Hier starb ... beim Versuch, die Grenze zu überschreiten». Und Einschusslöcher vom Krieg.

Doch die zarten Keime, die hier vor drei Jahren gesät wurden, tragen Früchte. Nach und nach wird das Stadtkloster für immer mehr Menschen zu einer spirituellen Oase. Zu einem Ort, das Seelen auf die Sprünge hilft. Menschen leben jetzt auf Zeit in den neu eingerichteten Gästezimmern, um sich neu zu orientieren oder auf der Baustelle mitzuhelfen.

Neues Leben in alten Mauern

Die Angebotspalette wächst: Georg Schubert, ausgebildeter Lehrer für Geschichte, Deutsch und Geographie, bietet mit seiner Frau Kurse zu Ehe- und Beziehungsfragen. Barbara Schubert gestaltet zugleich Meditationskurse. Corinne Dürr kümmert sich um die Kinder- und Jugendarbeit im Kloster.

Ein Fixpunkt ist der Klostergarten. Hier treffen Ost und West, Latte-Macchiato-Volk und ältere Anwohner aufeinander. Die Kommunitätsmitglieder sitzen auf klapprigen Stühlen made in der DDR und grillen. Georg Schubert, wie oft in schwarzen Jeans, Hemd und Fliesspullover, spricht über einen Text über die französische Schriftstellerin Madeleine Delbrêl. Die Gespräche kreisen um die Frage: Wie überlebt man als Christ in der Grossstadt? Wie entwickelt man eine Spiritualität für den Alltag?

Das «Wunder von Berlin»

Dreimal täglich wird die Arbeit für das Gebet in der Kirche unterbrochen. «Obwohl wir eine evangelische Kommunität sind, haben wir von den Benediktinern gelernt, dass es gut tut, immer wieder bewusst mit Gott Zwiesprache zu halten», sagt Barbara Schubert. Dies soll ein Ort sein, an dem man bewusst nach Gott suchen kann.

Barbara Schubert beobachtet: Es sind nicht wenige, die Halt und Sinn suchen in Berlin, dieser Stadt mit den 1000 Veranstaltungen jeden Tag. Wie sehr, das spürt sie oft im Mittagsgebet, zu dem sich die Kommunitäts-Mitglieder jetzt um 12 Uhr versammeln.

Die Spiritualität der Gemeinschaft, lesen die Besucher am Eingang, orientiert sich am Humor des Don Camillo, bekannt aus den Büchern von Giovanni Guareschi. Gebetet wird in einem Kirchraum, dessen Aussenhaut fleckig ist von Wasserschäden. Ins Auge fallen die kostbaren Glasfenster. Den Meditationstexten folgt eine lange Phase der Stille.

Neugierige Sinnsucher

Nach und nach wird dieser Ort, der lange Zeit wie unter einem grauen Schleier verborgen lag, entdeckt. Zu den Gebeten und Kursen kommen immer mehr Leute. Es sind Studenten, Neuzugezogene und neugierige Sinnsucher.

Während zu Hause manche noch über das gottlose Berlin spotten, werden die Schweizer hier seit einiger Zeit Zeuge eines erstaunlichen Prozesses. Ihnen war es 2007 kaum bewusst, dass sie ihr Projekt mitten in der prosperierenden Kirchen-Szene des Prenzlauer Bergs begannen.

Die Segenskirche steht zwar nicht derart im Focus wie ihre prominenten Nachbarkirchen Zion und Gethsemane, doch auch «Segen» kriegt etwas vom Glanz jenes Phänomens ab, das manche als «Wunder von Berlin» bezeichnen.

Gemeint ist für einmal nicht der Mauer-Fall. Seit Jahren steigen die Zahl der Gottesdienstbesucher und die Taufen. Das Stadtkloster Segen steht mitten im geburtenstärksten Bezirk Europas. Die neuen Gemeindeglieder sind vornehmlich junge, gut situierte Familien, die ihre kirchliche Sozialisation in Süd- oder Westdeutschland erfahren haben und nun in den frisch sanierten Gründerzeithäusern des Bezirkes wohnen.

Stets neue Gesichter

Sonntagabend um 21 Uhr. Eine helle Glocke ruft zur «AbendbeSINNung» in die Segenskirche. Im Kirchraum sitzen rund 40 Menschen. Georg Schubert sieht fasziniert am Eingang zu, wie sich diese Zahl nicht nur hält, sondern er stets auch neue Gesichter sieht. Nach dem Gebet verharrt er noch ein wenig schweigend im Kirchraum. Er stellt sich Fragen wie: Wie das grosse, alte Gebäude mit Leben füllen? Müssten wir nicht schon weiter sein und Spektakuläreres bieten in dieser anspruchsvollen Stadt?

Georg Schubert sagt danach jedoch: «Wir setzen nicht auf schnelle marketingtaugliche Erfolge. Alles muss sich entwickeln. Selbst ein schnöder Apfel am Baum braucht seine Zeit, um zu wachsen.»

Zum Thema:
www.stadtklostersegen.de

Datum: 06.05.2010
Quelle: Kipa

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