Der Weg ist das Ziel

Pilgern – zwischen Entschleunigung und spirituellem Trend

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Die wenigen Menschen, die den Jakobsweg noch nicht bis Santiago de Compostela gepilgert sind, haben es sich für dieses oder spätestens nächstes Jahr fest vorgenommen. Das ist natürlich übertrieben, aber Pilgern liegt so sehr im Trend, dass man fast solch einen Eindruck gewinnen kann. Was fasziniert Menschen am Pilgern?

Wandern hat als Sport seine Zielgruppe – sie ist aber nicht besonders gross. Der Kirchenbesuch hat unter den getauften Westeuropäern seinen Stellenwert – er ist ebenfalls nicht besonders hoch. Aber die Schnittmenge aus beiden Disziplinen, das Pilgern, boomt seit vielen Jahren.

Am Anfang war Hape Kerkeling

Natürlich ist Pilgern keine neuzeitliche Erfindung. Bereits in der Antike wanderten Gläubige zu besonderen Orten. Allerdings hat die weite Verbreitung des Pilgergedankens im deutschsprachigen Raum ihre Wurzeln ziemlich klar in Hape Kerkeling und seinem Buch «Ich bin dann mal weg». Der Entertainer war 2001 in einer gesundheitlichen und Sinnkrise. Und so begab er sich auf den Jakobsweg… Auch wenn das Buch unterhaltsam geschrieben und der danach gedrehte Film mit viel Schauspielprominenz besetzt ist, erklärt dies nicht den Hype, der daraus entstand. Scheinbar trifft die alte spirituelle Übung des Pilgerns auch einen modernen Nerv.

«Ein Gast auf Erden»

Wer sich in der Antike auf den Pilgerweg machte, der war monatelang unterwegs und setzte dabei oft sein Leben aufs Spiel. Daraus zu schliessen, dass Pilgern früher ernsthafter und glaubensstärker war als heute, wäre allerdings vorschnell. Schon der Mönch Thomas von Kempen schrieb im 15. Jahrhundert in seinem Buch «Von der Nachfolge Christi» kritisch: «Wer viel pilgert, wird selten heilig.» 

Auch wenn Pilgern heute unterstützt von ICE, Flugzeug und Bus stattfindet, hat sich das Gefühl dabei gehalten, unterwegs in der Fremde zu sein – und das ist wirklich ein Basisgedanke des Pilgerns. Der Pilger ist auf lateinisch ein «peregrinus» oder Fremdling. Dieses Lebensgefühl, unterwegs zu sein, das eigentliche Ziel noch nicht erreicht zu haben, ein Gast auf Erden zu sein, wie es ein bekanntes Gospellied formuliert, macht tatsächlich bis heute vieles von der Attraktivität aus. Der Schreiber des Hebräerbriefs drückte es einmal so aus: «Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir» (Hebräer, Kapitel 13, Vers 14).

Neben diesem Lebensgefühl lernt man beim Pilgern noch eine ganze Menge. Mehr noch: Man erlebt es am eigenen Leib. Zum Beispiel:

Ich bin nicht der Mittelpunkt der Welt

Ich muss nicht einmal in den gewaltigen Pyrenäen unterwegs sein, um zu merken, dass sich die Welt nicht um mich dreht. Dass ich selbst ein eher kleines Rädchen in der Schöpfung bin. Das ist nicht einmal ein Herabsetzen, sondern für viele gestresste Berufstätige, die ständig meinen, dass «alles an mir hängt», eine wirkliche Befreiung. Und jeder Schritt beim Unterwegssein unterstützt diese Botschaft noch, ob ich allein wandere oder in der Gruppe, ob es unerträglich heiss oder kalt und regnerisch ist. Ich habe nicht alles in der Hand – und das brauche ich auch gar nicht. Ich bin nicht der Mittelpunkt der Welt.

Ich komme vorwärts, Schritt für Schritt

Der typische Berufsalltag vieler Menschen vermittelt ihnen kaum noch Erfolgserlebnisse. Eine Zielvorgabe löst die nächste ab, ein Arbeitsschritt den anderen. Und wo bleibt da der Fortschritt? Also die echte, spürbare Weiterentwicklung? Meist bleibt sie auf der Strecke. Ganz anders ist das beim Pilgern. Da sind die Erfolge zunächst einmal so klein, dass es kaum lohnt, darüber zu reden. Was ist schon ein Schritt? Dazu kommen noch Schwierigkeiten wie Muskelkater oder Steinchen im Schuh. Aber Tatsache ist: Am Ende des Tages habe ich einen Fortschritt erlebt. Einen echten Fortschritt, der sich auch so anfühlt. Und das ist ein gutes Gefühl. Auf Managerdeutsch nennt man dieses Gefühl Entschleunigung.

Ich gebe meinen Gedanken Raum

Im Alltag klingelt permanent mein Telefon. Oder es kommt noch schnell eine Whatsapp. Nebenbei laufen das Radio und der Fernseher. Menschen und Medien fordern meine ständige Aufmerksamkeit. Beim Pilgern ist es auch gut, mit einem gewissen Mass an Aufmerksamkeit auf den Weg zu achten. Allerdings stellt sich bald ein meditatives Laufen ein. Das Laufen automatisiert sich und plötzlich ist mein Kopf frei. Er ist frei für die Gedanken, die ich immer zurückgedrängt habe. Für ein wildes Gedankenkarussell. Oder für eine entspannte Leere. 

Ich schaffe Raum, Gott zu begegnen

Eigentlich jeder, der sich dazu entschliesst zu pilgern, hat dabei seine Fragen und Erwartungen im Gepäck. Das ist völlig normal – und kann sehr hinderlich sein. Denn Gott antwortet nicht ab Kilometer 15 auf die erste und bis Kilometer 354 auf die letzte Frage. Was ich beim Pilgern tun kann, ist, Gott Raum zu geben. Vielleicht legt er seinen Finger auf ganz andere Punkte als auf die, die mir zunächst wichtig sind. Vielleicht beantwortet er meine Fragen auch sehr konkret. Tatsache ist: Pilgern verändert. Dazu muss es nicht der Jakobsweg sein, obwohl der durch seine gute Infrastruktur einlädt. Pilgern führt mich zu mir selbst, zu andern und zu Gott.

Nicht für jeden und doch für jeden

Muss man denn nun pilgern? Natürlich nicht. Ich verdiene mir bei Gott keinen Orden damit. Es ist einfach nur eine geistliche Übung von vielen. Wer gar keinen Zugang dazu findet, der kann es gern bleiben lassen. Wer nicht durch Nordspanien wandern will, kann es einmal mit der Ostsee versuchen. Aber wer merkt, dass er beim Pilgerwandern zur Ruhe kommt und Gott begegnet, der sollte das kultivieren. Und wenn es nur für ein paar Tage ist: «Ich bin dann mal weg».

Zum Thema:
Im Trend – unterwegs, um Gott zu begegnen
Neu im Kino: «Ich bin dann mal weg» – der Pilger-Bestseller als Film
Pilgern nach London: Zu Fuss auf den Spuren von John Wesley

Datum: 10.04.2019
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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