Wir stehen vor der Abstimmung über das revidierte Asylgesetz. Es wirft auch aus christlicher Sicht grundsätzliche Fragen auf. Der Autor geht auf diese Fragen ein und beleuchtet auch die Ausländerpolitik der Parteien.
Asylsuchende in der Schweiz
Hat die mehr als 2'000 Jahre alte Bibel noch etwas zur heutigen Migrationspolitik beizutragen? Sicher gibt es im Bereich der Migration etliche komplexe Fragen, die nicht anhand der Bibel beantwortet werden können. Aber was sie an Grundsätzlichem zur Einstellung und zum Menschenbild in Bezug auf «Fremde» und «Ausländer» sagt, ist auch heute einen genauen Blick wert.
Altes Testament: «Ihr seid Fremde gewesen…»
Der hebräische Begriff «ger» bezeichnete freie, dauernd in Israel wohnende «Ausländer» bzw. Angehörige anderer Völker, die in gewissen Bereichen von den Israeliten abhängig waren. Die meisten Gesetze der fünf Bücher Mose verwenden diesen Begriff. Der Begriff «nakhri» umfasste Fremde im allgemeinen Sinn, die sich nur zeitweilig beim Volk Israel aufhielten, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Sie brauchten offenbar, im Gegensatz zur ersten Gruppe, kaum Schutz durch das Gesetz. Die Fülle der Gesetzesbestimmungen, die sich mit den «gerim», den Ausländern befassen, versuche ich ganz grob zusammenzufassen:
Für die Fremden galt das gleiche Gesetz wie für die Israeliten: Sie hatten weitgehend dieselben Rechte und Pflichten, sie konnten und sollten ebenso den Sabbat halten, und auch im kultischen Bereich waren sie beinahe gleichberechtigt. Die Israeliten waren verpflichtet, Ausländer, die verarmt waren, ebenso zu unterstützen wie ihre Landsleute. Es ist überraschend, wie oft sie erwähnt werden, während sie z.B. in mesopotamischen Gesetzessammlungen kein Thema sind.
Zusammen mit den Witwen und Waisen zählten die Ausländer offensichtlich zu den wirtschaftlich und sozial Schwachen in Israel. Sie brauchten den Schutz des Gesetzes vor Ausbeutung und Übervorteilung.
In wirtschaftlicher Hinsicht wird mehrmals die Nachlese erwähnt. Die Bauern waren dazu angehalten, ihre Felder, Weinberge und Olivenhaine nicht zu gründlich abzuernten, damit noch etwas für die Witwen, Waisen und Fremden übrigblieb und sie sich auf diese Weise selber versorgen konnten. Im 5. Buch Mose wird zusätzlich erwähnt, dass der Zehnte für Versorgung der Leviten sowie der Armen (Witwen, Waisen und Fremden) verwendet werden sollte.
Begründet werden diese Gebote einerseits mit der knappen Aussage «Ich bin der Herr, euer Gott», oft aber – vor allem im Zusammenhang mit dem Verbot, die Ausländer auszubeuten und zu übervorteilen – auch mit dem Hinweis, «denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen». Das Volk sollte also seinen «Migrationshintergrund» nicht etwa verdrängen. Dieser war im Gegenteil ein Teil seiner Identität: «Das Land darf nicht endgültig verkauft werden; denn das Land gehört mir, und ihr seid nur Fremde und Halbbürger bei mir.» Dadurch sollten sie Verständnis für die Lage der Ausländer entwickeln und sich so zur Solidarität anregen lassen. Bereits die Stammväter Abraham, Isaak und Jakob, aber auch Mose wussten, was es bedeutete, in der Fremde bei einem anderen Volk zu leben.
Erst in der Richter- und Königszeit wird Israel von einem Volk von Migranten zu einem Volk von Eroberern. David staunt, in welchem Mass Gott ihm fremde Völker untertan gemacht hat. Salomo benutzt die Ausländer als willkommene Arbeitskräfte in seinen gigantischen Bauprojekten.
In den prophetischen Büchern wird Fremdenangst zunächst sehr real und begründet dargestellt. Für den Fall, dass das Volk Israel sich nicht an den Bund mit Gott hält, wird angedroht, dass Fremde zu Akteuren in Gottes Gericht werden, dass sie über sie herrschen, sich den Ertrag ihrer Äcker sichern und ihre Wertsachen rauben, und bekanntlich traf dies auch tatsächlich ein. Auf der anderen Seite ist unbarmherziges, unmoralisches Handeln der Israeliten an ihren Ausländern einer der Gründe, warum Gott ihnen das Gericht ankündigt.
Nun kann ja bei uns Schweizern nicht unbedingt ein Migrationshintergrund vorausgesetzt werden – eine der Begründungen für einen barmherzigen Umgang der Israeliten mit ihren Ausländern. Gibt es dennoch Anhaltspunkte, dass diese Bestimmungen auch uns angehen? Hier ist eine Betrachtung des Neuen Testaments aufschlussreich. Zunächst bietet sich der Hebräerbrief an, der ja zahlreiche Motive aus dem Alten Testament aufnimmt.
Neues Testament: «Fremde und Gäste in der Welt»
Der Stammvater Abraham wird hier zum Vorbild des Glaubens. Der Glaube erlaubte ihm, «als Fremder im verheissenen Land wie in einem fremden Land» in Zelten zu leben, «denn er erwartete die Stadt mit den festen Grundmauern, die Gott selbst geplant und gebaut hatte.» Das Selbstverständnis der Patriarchen und des Volkes Israel als Ausländer wird hier also auch auf die Nachfolger Jesu übertragen. Das Bild der Migranten oder Pilger, die auf dem Weg in die wahre Heimat sind, wird in den nächsten Versen weiter entfaltet. Auch Paulus sieht sich selber als einer, der in der Fremde lebt.
Ebenso wendet sich der Verfasser des ersten Petrusbriefes «an die Auserwählten, die als Fremde in Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asien und Bithynien in der Zerstreuung leben.» Er ermahnt sie, solange sie in der Fremde sind, ein Leben in Gottesfurcht zu führen. Sie sind aus ihrer «sinnlosen, von den Vätern ererbten Lebensweise (…) mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel» freigekauft. Man erhält den Eindruck, dass hier das Bekenntnis zu Jesus und die daraus folgende neue Ethik die Christen zu «Fremden und Gästen in dieser Welt» macht, die eigentlich zu einer neuen Welt gehören.
Und Jesus selbst? Er spricht nicht viel von den Ausländern, aber wo er das tut, ist er ziemlich provokativ. Um das Gebot der Nächstenliebe zu illustrieren, erzählt Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter und stellt damit dem Gesetzeslehrer einen verachteten Ausländer vom Volk der Samaritaner als Vorbild vor die Nase: «Dann geh und handle genauso». Jesus dreht hier das Gebot der Nächstenliebe aus 3. Mose 19,33-34 um, wo es heisst: «Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.» Noch weiter geht Jesus in Matthäus 25. Im Gleichnis der Schafe und Böcke identifiziert er sich vollständig mit den Schwächsten und Verachtetsten unter den Menschen. Er ist der Nackte, Kranke, Gefangene, der Fremde und Obdachlose, dem die «Schafe» Gutes getan haben. «Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan! » Und die «Böcke» haben ihn in Gestalt dieser Verachteten ignoriert.
Die Bibel fordert uns also im Bereich Migrationspolitik und Migrationsethik ganz schön heraus, und das Neue Testament zeigt, dass auch dies ein Aspekt unserer Identität ist: Uns als Fremde und Gäste hier zu begreifen, die auf dem Weg in eine bessere, ewige Heimat sind. Ein solches Selbstverständnis scheint mir die Voraussetzung für den Umgang mit Migranten bei uns. Es wird uns helfen, sie als unsere Nächsten und quasi als Schicksalsgenossen zu sehen und ihnen barmherzig zu begegnen.
Der Autor: Martin Züllig, verh., 2 Kinder, ist Verwaltungsassistent beim Bund und Absolvent des Theologisch-Diakonischen Seminars Aarau (TDS).
Die Positionen der Schweizer Parteien in der Migrationspolitik und eine Bewertung aus der Sicht des Autors finden Sie hier.
Datum:
24.04.2013 Autor: Martin Züllig Quelle: Livenet