«Wo wir selbst nicht-behindert sind, da bilden wir die Umwelt derer, die behindert sind», schreibt der Arzt Martin Grabe, der selbst auf eine starke Brille angewiesen ist. Am heutigen Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung geht es um den Einschluss aller in die Gemeinschaft – Herausforderung auch für christliche Gemeinden.
Behinderung ist keine blosse Tatsache, sondern das, was bei körperlicher, seelischer oder geistiger Beeinträchtigung beidseits erlebt und getan wird. So beschreibt es der Psychiater Martin Grabe in der letzten Ausgabe des Magazins P&S für Psychotherapie und Seelsorge. Es gebe keine objektive Definition für Behinderung aufgrund einseitiger Betrachtung. «Behinderung ergibt sich im Zusammenspiel von Individuum und Umwelt.»
Ausgrenzung überwinden
Wolfgang Gern, Leiter des Diakonischen Werks Hessen und Nassau, sieht Jahre nach der UN-Behindertenrechtskonvention 2006 noch einen grossen Handlungsbedarf in der Gesellschaft, «um Vorurteile und Ausgrenzung zu überwinden». Dies auch bei einem hohen fachlichen Standard der Behindertenhilfe. Die Konvention ist in Deutschland 2009 in Kraft getreten; in der Schweiz wird vorab abgeklärt, was für Konsequenzen die Ratifizierung hätte.
Der Konvention geht es ums Empowerment von Menschen mit Behinderungen; zudem sollen – Gern zitiert den UN-Menschenrechtsexperten Heiner Bielefeldt – Behinderungen als «Bestandteil menschlichen Lebens und Zusammenlebens» anerkannt werden. In der Gesellschaft soll, so der Diakonie-Leiter Gern, «die Wunsch- und Wahlfreiheit von Menschen mit Behinderungen umfassend gestärkt» werden. Das beginne vor der eigenen Haustür, in der Nachbarschaft.
(Un)sichtbare Hürden
Im Zug der Umsetzung der UN-Konvention in Deutschland ziehen Behinderte aus grossen Institutionen um in Wohngruppen; sie kommen vermehrt unter die Leute und werden Teil von Kirchgemeinden. Für diese ist es «ein Schatz von unschätzbarem Wert, wenn vermehrt Menschen mit Behinderung zu ihren aktiven Gliedern gehörden». In dem Schatz erschliesse sich auch der Wesenskern von Gemeinde, schreibt die Klinikseelsorgerin Christiane Bindseil. Christliche Gemeinde sei von Beginn an gedacht gewesen als der Ort, «wo Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und von ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten zusammenkommen».
Der Einschluss (Inklusion) von Behinderten soll, so Bindseil, die Gemeinde als Ganze prägen, nicht bloss ein Angebot sein. Sie plädiert für Begegnungen und gegenseitiges Kennenlernen. «Das Wichtigste ist, dass Menschen mit Behinderung immer selbstverständlicher in das Bild des Gemeindealltags hineingehören.»
Unebene Treppe als Abenteuer
Die blinde Autorin Susanne Krahe berichtet im Magazin P&S von einer Podiumsdiskussion «Leben mit Behinderung» mit Kirchenleitern. Sie fand in einem mittelalterlichen Rathaus statt, in dessen Festsaal Rollstuhlfahrer hätten hinaufgetragen werden müssen. Den Service nahm niemand in Anspruch. Für Krahe wurde der Gang über die unebene Treppe ohne Geländer zum Abenteuer. Statt den Blickwinkel der Behinderten zu erkunden, hielten an der Veranstaltung, so ihr Eindruck, «Kirche und Theologie sich die fremde Welt auf Abstand. Was könnte man vom beschädigten Leben auch Neues lernen?»
Krahe hinterfragt das Bemühen um nicht-diskriminierende Sprache (der Behinderte nun ein «Mensch mit Assistenzbedarf») – sie könne «die Distanz zwischen der Welt der Beschädigten und der der Schadlosen» noch vergrössern. Vielmehr: «Eine unmissverständliche Wortwahl, auch wenn sie offiziell zum Tabu erklärt wird, verletzt uns keineswegs, sondern ist Basis einer ehrlichen Verständigung.»
Jesus ohne Scheuklappen
Laut Krahe bietet beschädigtes Leben kreative Potenziale. «Hier liegen ungenutzte Kraftquellen, nach wie vor der kirchlichen Fürsorgementalität geopfert.» Statt Potenziale anzuzapfen, schütte man sie mit überheblicher und vereinnahmender Geste zu. Bei Jesus sieht die Theologin, die mit 30 erblindete, ein unvoreingenommenes Eingehen auf Behinderte. «Abscheu oder Ekel vor deformierten Körpern und den Äusserungen verstörter Seelen waren Jesus fremd – was darauf schliessen lässt, dass er das Selbstbild von Behinderten in seine eigenen Vorstellungen vom beschädigten Leben einbezog.» Nicht nur für das Menschenbild – auch für das christliche Bild von Gott sei Behinderung wichtig. «Sieht er nur die Gutgebauten als seine Ebenbilder an?» Krahe spricht vom «zärtlichen Blick eines Gottes, der auch die scheinbar misslungenen Bausteine seiner Schöpfung liebt».