Die öffentliche Diskussion über #metoo (ich auch) und
#churchtoo (auch in meiner Gemeinde), in der sich viele Opfer sexueller Gewalt
zu Wort meldeten, ist abgeebbt. Frei vom Druck der Öffentlichkeit ist dies
eigentlich ein guter Zeitpunkt, das strukturelle Problem anzugehen, das in
vielen Kirchen und Gemeinden besteht. Denn dort bleibt missbräuchliches
Verhalten oft genug unentdeckt.
Nach wie vor geschehen die
meisten Fälle von sexuellen Übergriffen im familiären Bereich. Doch diese
Erkenntnis ist keine Entschuldigung fürs Nicht-Handeln. Denn auch in Kirchen
und Gemeinden geschehen solche Übergriffe noch viel zu oft. Und sie bleiben
dort, wie Kimberly Harris in der US-Zeitschrift «Christianity Today» schrieb,
vielfach unentdeckt und ungeahndet, weil sie durch das christliche Umfeld
begünstigt werden.
Geständnisse werden nicht gehört
Harris beginnt ihren Artikel mit
dem verstörenden Bericht eines Pädophilen, der sich seinem Pastor endlich
anvertrauen wollte. Vorsichtig begann er zu erklären, dass es gewisse
Beschuldigungen gegen ihn gäbe. Weiter kam er nicht, denn der Pastor unterbrach
ihn: «Das ist wohl das Dümmste, was ich je gehört habe. Du bist der letzte, von
dem ich so etwas annehmen würde. Ende der Diskussion!»
Nun ist es ein
unbestreitbarer Vorteil christlicher Gemeinschaften, Menschen positiv
wahrzunehmen und ihnen Gottes Liebe entgegenzubringen. Berichte wie der
beschriebene zeigen jedoch klar die Grenzen und strukturellen Schwächen dieser
Haltung auf. Absolut gesehen, führt solch eine Einstellung einfach dazu, dass
nicht sein kann, was nicht sein darf. Schuld wird ignoriert, Anzeichen werden
übersehen, selbst Geständnisse werden wegdiskutiert. Die Psychologin Anne
Salter arbeitet seit Jahrzehnten mit Missbrauchsopfern und Tätern. Ihr
ernüchterndes Resümee geht in dieselbe Richtung: «Viele Straftäter berichten,
dass religiöse Menschen noch einfacher hinters Licht zu führen sind als die
meisten anderen.»
Vergebungskultur ignoriert Opfer
Vergebung und Vertrauensvorschuss
sind wunderbare Eigenschaften, doch ihre Überbetonung in Kirchen und Gemeinden
führt oft dazu, dass Missbrauchsopfer quasi fortgesetzt missbraucht werden. Oft
erhalten sie eine Art Mitschuld am Missbrauch. Sie gelten schnell als
«Nestbeschmutzer», die das Ansehen der Gemeinde beschädigt haben. Und der
Anspruch an sie ist klar: Vergib dem Täter!
Was auch immer in der Willowcreek-Gemeinde
vorfiel (Livenet berichtete),
die Leiter erkannten erst sehr spät, dass sie mit der Verteidigungshaltung
ihrem Pastor gegenüber gleichzeitig die möglichen Opfer respektlos behandelt
hatten. Leider ist dies eine typische Folge in Kirchen und Gemeinden. Harris
berichtet in ihrem Artikel von der Anwältin Rachael Denhollander. Sie ist
selbst Missbrauchsopfer, klagte den Täter an und engagierte sich auch für
andere Opfer: «Es widerspricht dem Evangelium Christi, wenn wir unsere Stimme
nicht gegen Missbrauch erheben und ihn in unseren eigenen Gemeinden dulden.» Denhollander
verlor aufgrund ihres Engagements ihre Gemeinde. Opfer werden im kirchlichen
Umfeld nach wie vor oft ignoriert.
Grooming ist ein Fremdwort
Missbrauch geschieht nicht
einfach so. Er entwickelt sich. Täter planen und bereiten ihre Aktionen vor.
Diese «Anbahnung» wird fachsprachlich mit dem englischen Begriff «Grooming» beschrieben. Und es beinhaltet viel mehr als das Gefügigmachen eines
potenziellen Opfers. Denn auch dessen Familie, sein Umfeld und die Gemeinde
wird oft vom Täter manipuliert, um seine Absichten zu verschleiern. Grooming
ist eine perfide Mischung aus dem Schaffen von Abhängigkeiten, dem Suchen und
Praktizieren von immer grösserer Nähe und dem gleichzeitigen
Unglaubwürdigmachen des anderen. Dies geschieht zwar nicht offen, ist aber
durchaus erkennbar.
Weil Täter ihre Erfahrungen sehr professionell ausspielen,
ist es unbedingt nötig, dass auch Kirchen und Gemeinden professionell darauf
reagieren. Zum Beispiel durch einen verantwortungsvollen Umgang mit
Autoritäten. Harris zeigt anhand von US-Zahlen, dass 34,9 Prozent der
männlichen Straftäter in Gemeinden Pastoren und weitere 31,4 Prozent
Jugendleiter sind. Ganz praktisch muss es in solch einem Fall möglich sein,
gegen diese Personen vorzugehen, ohne dass ein Opfer erst einmal gegen das
Autoritätsgefälle ankämpfen muss. Harris stellt fest: «Zu oft sind die Täter wichtige
Spender, mächtige und einflussreiche Menschen oder haben treue Unterstützer. Wenn
ein Opfer nun den Mut hat, an die Öffentlichkeit zu gehen, kann sich das anfühlen,
als hätte es schlechte Karten. Doch solch eine Art Gemeindeleitung ist
definitiv keine nach Gottes Herzen.»
Weder Generalverdacht noch automatische Absolution
Um den Bogen zum Anfang zu
schliessen: Missbrauch findet nicht schwerpunktmässig in Kirchen und Gemeinden
statt. Und ein Generalverdacht für jeden Pastor oder Jugendleiter ist weder
sinnvoll noch angebracht. Die meisten machen eine hervorragende Arbeit und sind
alles andere als Täter. Gleichzeitig darf sich eine Gemeinde in ethischen
Fragen nicht einigeln. Ein Unterscheiden von «wir hier drinnen» und – negativ
besetzt – «die da draussen» ist nicht hilfreich. Besonders nicht, wenn es um
sexuelle Übergriffe geht. Denn diese können in frommem Umfeld genauso vorkommen
wie anderswo. Wenn Gemeinden diese Fragen ignorieren, ermöglichen sie weiterhin
Missbrauch und verletzten die Opfer zusätzlich. Wenn Gemeinden sich ihrer
Verantwortung bewusst werden, Menschen proaktiv schützen und Opfern richtig
begegnen, dann ist Vermeidung bzw. Heilung möglich. Doch dies beinhaltet in
jedem Fall strafrechtliche Konsequenzen für Täter.