Das verkürzte Gebet

Wenn das Amen zu früh kommt

Der Pfarrer hört mitten im Unservater auf zu beten und sagt: «Amen.» Was kann uns verunmöglichen, das Unservater bis zum Schluss zu beten?

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Sind Sie zufrieden mit Ihrem Nachbarn? Wenn ja, dann sind Sie besser dran als jener Mann, der sich so sehr mit seinem Nachbarn zerstritten hatte, dass sie sich nicht einmal mehr grüssten.

Ohne Frieden zu schliessen...

Der Pfarrer des Ortes wollte vermitteln. Doch er stiess auf Granit. «Nein, Herr Pfarrer», sagte der Mann, «ich bin immer für die Kirche zu haben, aber der andere hat mich dermassen angegriffen, dass es unmöglich ist, Frieden zu schliessen.» Daraufhin sagte der Pfarrer:  «Wie ich sehe, kann ich hier nichts ausrichten, dann werde ich gehen, aber können wir vorher noch das Unservater zusammen beten?» – «Na schön, Herr Pfarrer, Sie können beten und ich werde mitmachen.»

Der Pfarrer betete laut: «Unser Vater im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld. Amen.» Dann erhob sich der Pfarrer, verabschiedete sich und ging.

Der Mann aber wiederholte immer wieder den Schluss des Gebetes: «...und vergib uns unsere Schuld. Amen».

Er dachte eine Weile darüber nach und sagte sich: «Aber das Unservater hört doch nicht so auf. Der Pfarrer hat mittendrin aufgehört. Eigentlich müsste es doch heissen: 'Wie wir vergeben unsern Schuldigern...'.»

... bleibt das Himmelreich verschlossen

Da erschrak er. «Ich kann ja wirklich das Unservater nur zum Teil beten. So wie ich zu meinem Nachbarn stehe, kann ich nicht beten 'wie wir vergeben unseren Schuldigern'. Dann komme ich gar nie bis zum Schluss des Gebetes: 'Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen'. Wenn ich mich nicht mit meinem Nachbarn versöhne, dann bleibt das Himmelreich mit seiner Kraft und Herrlichkeit, die in alle Ewigkeit währt, für mich verschlossen.» Rasch stand er auf und lief dem Pfarrer hinterher.

Liebe Leserin und lieber Leser, schwierige Nachbarn, Vorgesetzte, Familienmitglieder usw. gibt es überall. Sie sollten mich aber nie in eine Haltung bringen, die es mir verunmöglicht, das Unservater bis zum Schluss zu beten.

Herbert Held ist Pfarrer in Röthenbach. Der Artikel stammt aus seinem ersten Büchlein «Auszeit – Gedanken für zwischendurch».

Zum Thema:
Dossier: Vergebung
Frei sein: Die Kunst zu vergeben
Die Wut: Mein ständiger Begleiter
Schauspielerin Mia Farrow: Vergebung ist überlebenswichtig

Datum: 15.11.2015
Autor: Herbert Held
Quelle: Sonntagsblatt des «Berner Oberländer»

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