Georg Schmid zur Schweizer Kirchenszene

Bewegte Charismatiker – Intoleranz bei den Reformierten

Im Frühjahr ist das Handbuch „Kirchen, Sekten, Religionen“ aus dem Theologischen Verlag Zürich in siebter Auflage erschienen. Neu zeichnen der Religionswissenschaftler Georg Schmid und sein Sohn Georg Otto Schmid als Herausgeber für das Standard-Nachschlagewerk für den deutschen Sprachraum, das von Oswald Eggenberger begründet wurde.

Im zweiten Teil des Livenet-Gesprächs äussert sich Georg Schmid, Leiter der reformierten Informationsstelle und Professor an der Universität Zürich, zur Dynamik charismatischer Gruppen und zu den Perspektiven für die hiesigen Landeskirchen. Bei den Reformierten sieht er Intoleranz herrschen – wenn es um Spirituelles geht.

Livenet.ch: Georg Schmid, Sie schreiben in der Einleitung, dass sich neo-charismatische Gruppen und Gemeinden hierzulande in den letzten Jahren vervielfacht haben. Bei den traditionellen, evangelikalen Freikirchen geschieht dies kaum. Wie erklären Sie sich das?
Georg Schmid: Die Charismatik ist, etwas einfach formuliert, sehr emotionsgeladen. Charismatik ist intuitiv. Man achtet auf Eingebungen. Man ist natürlich auch am biblischen Wort interessiert, aber man geht damit spontaner um; man lässt sich auch von Eingebungen leiten. Charismatik ist im Schnitt kreativer als – ich meine dies nicht abwertend – ‚bloss‘ evangelikales Christentum.

Wenn ich in einer solchen Gruppe bin, erwarte ich etwas; auch Unerwartetes darf passieren...
Charismatik und Pfingstlertum ist auch eher sektengefährdet als evangelikales Christentum. Wenn Sie sich möglichst ans biblische Wort klammern, dann sind da Sicherungen gegen Sekten-Tendenzen eingebaut. Zum Beispiel gegenüber der Verehrung von Meistern. „Einer ist euer Meister, ihr aber seid alle Brüder“: Diese und ähnliche Sätze stehen gegen unkritische Gefolgschaft.

Wenn Sie eine sehr biblizistische Gruppe leiten, fahren Sie einen relativ sicheren, aber eher langweiligen Kurs. Wenn Sie eine charismatische Gruppe leiten, achten Sie auf Eingebungen. Sie fühlen sich vom Himmel direkt berührt, mit allen Gefahren, die solche Eingebungen in sich tragen. Denn wer spricht in Ihren Eingebungen? Der Himmel oder Ihre eigenen Launen? Diese Frage lässt sich oft nicht klar beantworten. Sie leben demnach viel wahngefährdeter. Aber Sie leben emotionaler, kreativer, vielleicht auch näher bei den Menschen.

Charismatische Bewegungen legen heute zu, während andere stagnieren. Bringen Sie dies mit der Zeitströmung der Postmoderne in Verbindung?
Die Freikirchen in der Schweiz, Evangelikale und Charismatiker zusammen, nehmen zahlenmässig nicht zu. Sie halten den Prozentsatz, den sie seit Jahrzehnten haben. Hingegen nimmt die Zahl der Gruppen zu. Und weltweit wächst das charismatische Christentum augenfällig. Das sehen Sie in Mittel- und Südamerika, in Afrika und Asien. Eine Mischung von evangelikalem mit charismatischem Christentum ist sehr en vogue.

Weltweit gibt es jetzt schon mehr Charismatiker und Pfingstler als Lutheraner und Reformierte traditionellen Zuschnitts. Hier in der Schweiz und Mitteleuropa ist Charismatik zwar kein religiöser Renner. Mitteleuropäer denken, leben und glauben gerne nüchtern. Aber die Charismatik hat auch hier ihr Publikum.

Wenn Sie das postmoderne Lebensgefühl ansprechen, und das Bedürfnis nach eigener tranceähnlicher Gotteserfahrung, wie es sich auch in der Esoterik seine Wege bahnt, dann lässt sich sagen: Charismatik ist die christliche Schwester der Esoterik. Und beide sind Kinder der Sehnsucht nach gemeinsamer Gottesnähe.

Wie meinen Sie das?
Ich spreche vom Bedürfnis nach Mystik und innerer Erfahrung. Wenn Sie gewisse charismatische Gruppen mit esoterischen Gemeinschaften vergleichen, sehen Sie Parallelen. Schon äusserlich: Man setzt sich nieder in der Gruppe – oder man schwingt mit, man tanzt, man singt, man wiegt sich in himmlischen Melodien, man taucht ein in den Strom des göttlichen Geistes und lässt sich forttragen.

Dabei sind auch, dies will ich betonen, die Unterschiede deutlich zu sehen: Charismatik ist nur die Schwester der Esoterik, aber nicht die Zwillingsschwester. Aber vom Erlebnismuster her steht die Charismatik der Esoterik viel näher als das durchschnittliche evangelikale Christentum. Verstehen Sie mich recht: Das ist kein Werturteil. Auch in der Esoterik finden sich sicher Dinge – und in der Charismatik ganz besonders –, die einem Bedürfnis des modernen Menschen entsprechen. Wer möchte nicht mitten in der problembeladenen und penetrant nüchternen Welt hie und da im göttlichen Geist baden?

Wir leben in einer allseits genormten Welt; da müssen wir auch ein bisschen innerlich wegdriften können, ein bisschen aussteigen, himmlisches Wehen erleben. Esoteriker erleben Engel, die vorbei kommen, oder Geistwesen, die sie grüssen und küssen. Der Charismatiker erlebt in seinen Versammlungen das Wehen des Heiligen Geistes...

Wenn ich oberflächlich formuliere: Der Esoteriker und der Charismatiker müssen beide etwas erleben, das sie persönlich übersteigt. Sie schwingen hinüber in eine andere Sphäre.

Auf der anderen Seite versteifen sich die alten Kirchen, Volkskirchen und ältere Freikirchen, oft darauf, trocken zu bleiben. Warum das?
Dass die grossen Kirchen eine Abteilung für trockene Leute führen und pflegen, dagegen habe ich gar nichts einzuwenden. Denn sobald sie das Angebot ein bisschen spiritueller, emotionaler, mystischer gestalten, springen ihnen wieder ein paar Leute ab. Es gibt nun mal Menschen, die gegenüber Gefühlen so zurückhaltend sind, dass sie es sich nicht vorstellen können, ekstatisch in der Gemeinde zu feiern und zu beten.

Aber die grossen Kirchen sollten unbedingt dieser Abteilung für trockene Alemannen nicht das ganze Haus des Glaubens überlassen. Sie sollten auch mystische Formen der Frömmigkeit akzeptieren und pflegen.

Dem steht die aufklärerisch bestimmte Theologie im Weg, die ganz auf rationale Klarheit setzt. Diese Theologie sagt, dass es keine Wunder gibt, nur den reinen – trockenen – Glauben. Die Theologen haben die Kirche verkopft und so rational durchgestylt, dass sie darin gefangen ist.

Ich studiere manchmal dem Paradox nach, dass in der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich und der anderen Kantone die Lehre an sich grossartig offen steht. Als Pfarrer können Sie fast lehren, was Sie wollen. Wir haben nicht einmal ein Bekenntnis.

Auf der anderen Seite sind wir spirituell ungeheuer eingeschränkt. Sie dürfen ja nicht zuviele spirituelle Experimente vorschlagen. Bei Mystik und Charismatik leuchten alle rote Lampen auf. Die protestantische Nüchternheit will das ganze Haus besetzen. Sie toleriert keine Mystik neben sich.

Da ist man intolerant.
Ja, völlig intolerant. Wir sind spirituell ungeheuer eng und lehrmässig extrem offen. Warum muss das so sein? Ich begreife das nicht. Wir müssen doch unseren Leuten auch zeigen können: Schaut mal, es gibt verschiedene Formen des Betens, des Singens, des Feierns, des Gottesdienstes. Die eine Form christlicher Spiritualität für alle gibt es heute nicht mehr. Die Menschen sind doch sehr verschieden. Was für den einen peinlich ist, wirkt auf den anderen befreiend. Ich erlebte charismatische Versammlungen, in denen Leute zu Boden gefallen sind, in Trance getaucht.

Ob der Heilige Geist sie zu Boden gleiten liess, steht für mich auf einem anderen Blatt; ich nehme es als Ekstaseübung wahr. Aber wenn das Menschen befreit, wenn sie in einem geordneten Rahmen einmal total in ihre Gefühle einsteigen können – warum nicht? Ich verlange ja keineswegs, dass z.B. die ganze Zürcher Kirchensynode zu Boden sinkt und zuckt. Aber warum nicht ein bisschen mehr Toleranz nach allen Seiten? Warum nicht verschiedene Kammern und Kostgänger im Haus des Herrn?

Wenn wir schon lehrmässig so tolerant sind, warum können wir nicht auch spirituell ein wenig toleranter sein? Und wenn wir einmal eine Form der Toleranz gefunden haben – ich hatte zum Teil grosse Freude an Taizé und seinen Gebeten –, warum müssen wir dann unsere Form von Spiritualität zur Norm für alle machen? Das ist auch biblisch nicht gerechtfertigt. In der Bibel finden Sie so viele Menschen, die auf ihre Art und Weise Gott erlebt haben. Auch da gibt’s keine Norm. Also: Mehr spirituelle Toleranz und Vielfalt müssen wir unbedingt pflegen in den Landeskirchen. Sonst verkommen wir zu einem Randphänomen.

Die Frage steht im Raum, wie Landeskirche weitergeht, wie Kirche den nächsten Generationen weitergegeben wird. Die 25- bis 45-jährigen haben sich bereits grossenteils von der Kirche in ihrer traditionellen trockenen Gestalt verabschiedet. Was wir besprechen, ist nicht nur eine Stilfrage, sondern eine Überlebensfrage der Kirche.
Es ist in der Tat eine Überlebensfrage. Ich war bei verschiedenen sehr interessanten neueren "mystischen" Experimenten dabei, zum Beispiel dieser Nacht des Heilens, die von der reformierten Zürcher St.-Jakobsgemeinde unlängst in der Wasserkirche durchgeführt wurde. Das war intensiv. Natürlich stand ich dort als Kritiker; ich musste einen kritischen Vortrag halten und unterschied christliches Heilen von esoterischem Heilen.

Die Veranstaltung sehe ich als Versuch, Geist zu erleben als Kraft, die mich körperlich bewegt und berührt. Ich wünsche mir ähnliche Rituale nicht jeden Sonntag – aber warum nicht parallel zu einer Esoterikmesse Heilung einmal christlich diskutieren? Heilen ist doch – weiss Gott – ein Aspekt der Botschaft des Neuen Testaments.

Doch nicht nur Nächte des Heilens eröffnen mystische Pfade zu Gott. Ritual und Meditation erleben eine Renaissance. Im Bereich der Meditation sind uns die Katholiken noch eine Nase weit voraus. Das Gespräch zwischen Zen-Buddhisten und katholischen Christen ist eine echte Herausforderung. Es gibt so viele Formen der menschlichen Nähe zu Gott, dass wir nicht einfach auf einem trockenen Gottesdienst bestehen können.

Und wenn wir schon beim möglichst trockenen reformierten Predigtgottesdienst stehen bleiben – dann bitteschön andere Predigten. Da gibt es grosse Unterschiede. In den Predigten stecken ungeheuer viele Möglichkeiten. Die Religionen, die Prediger ausbilden, haben eine intensivere Volksnähe als jene, die nur Rituale durchführen. Das zeigen auch islamische Freitagsgebete in Krisenzeiten. Es sind gerade die Predigten der Mullahs in den Moscheen, welche die Leute so in Bewegung setzen.

An sich wäre das Predigen eine gute Sache – aber bitteschön anders, wenn ich mir das wünsche dürfte: intensiver, bewegter, näher bei den Menschen, weniger vortragsmässig. Die Predigten der Reformationszeit waren bestimmt viel intensiver als die heutigen Durchschnittspredigten. Wobei anzufügen ist, dass auch heute da und dort vorbildlich kraftvoll gepredigt wird. Das Zürcher Fraumünster scheint immer voll zu sein. Der Grund dafür heisst: gute Predigt.

Erster Teil des Livenet-Gesprächs mit Georg Schmid über den Dalai Lama und den tibetischen Buddhismus: www.livenet.ch/www/index.php/D/article/180/8629/

Evangelische Informationsstelle: www.relinfo.ch

Kurzartikel zum Handbuch ‚Kirchen, Sekten, Religionen‘: www.livenet.ch/www/index.php/D/article/161/8169/

Theologischer Verlag Zürich: www.tvz.ref.ch

Datum: 04.07.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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