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Wie gewinnen die Reformierten Profil?
Zuerst Kirche am Ort, aber nicht nur
Die Reformierten betonen den Vorrang der Kirchgemeinde vor überörtlichen Leitungen – am Ort ereignet sich Kirche. „Reformiert-Sein hat etwas Ur-Föderalistisches“, sagt der Berner Theologe Gottfried Locher. Doch Reformierte sollten vermehrt national und international Profil zeigen – in einem Umfeld, das sich rasch wandelt. Am Dienstag trug Locher, beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) zuständig für die Aussenbeziehungen, vor der Zürcher reformierten Kirchensynode seine pointierten Überlegungen unter dem Titel „Reformiertes Profil im grösseren Kontext“ vor.
Livenet dokumentiert die schriftliche Fassung des Vortrags zur Zukunft der Reformierten in der Schweiz und in der internationalen Kirchenlandschaft (Zwischentitel teils von der Redaktion).
Livenet dokumentiert die schriftliche Fassung des Vortrags zur Zukunft der Reformierten in der Schweiz und in der internationalen Kirchenlandschaft (Zwischentitel teils von der Redaktion).
I. Reformiertes Profil...
Es ist so eine Sache mit dem vielbemühten reformierten Profil: alle reden davon, alle finden es wichtig, alle wollen es stärken – und alle meinen etwas Anderes damit. Es gibt mindestens so viele reformierte Profile, wie es reformierte Kirchen gibt: in der Schweiz allein über zwei Dutzend. Man kann sie nachlesen in den vielen (Kirchen-) Verfassungen unseres Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes.
…erst durch Widerspruch
Noch unterschiedlicher sind die Meinungen der Menschen in den Kirchgemeinden. Am eindeutigsten sind noch jene, die es geradeheraus sagen: reformiert sind wir, weil wir nicht katholisch sind. Das klingt zwar nicht grad visionär.
Aber es beschreibt ziemlich klar, wie wir uns heute, nach einigen Jahrhunderten ziemlich getrennter Kirchengeschichten, fühlen. Wir sind anders – das ist der Ursprung unseres Profils.
Schliesslich nennt man uns nicht ohne Grund „Protestanten": wir haben protestiert, damals, als die Kirche reformiert werden musste, um vor Gott und der Welt wieder glaubwürdig zu werden. Protestanten: das sind die, die nicht einfach Ja und Amen sagen zu allem, was „von oben" so diktiert wird, sei es in der Politik oder eben auch in der Kirche. Protestanten, das sind Christen, Christinnen, die den Widerspruch gegen die Mächtigen nicht scheuen, weder gegen die weltlichen noch gegen die geistlichen.
Und wer hat denn in unserem Land diese geistliche Macht je anschaulicher verkörpert als eben jene katholische Hierarchie? Ja, wer eignet sich denn besser zum Widerspruch als eine Bischofskonferenz mit ihren Beschlüssen ohne Rekursmöglichkeit, als der Vatikan mit seiner Globaldogmatik, ja gar als der vermeintlich unfehlbare Papst in Rom höchstpersönlich?
Wenn etwas typisch ist für unser Profil, dann eben das unerschrockene Anders-Sein, das beharrliche Protestieren – vielleicht sogar die pure Lust am Widerspruch.
…dann in Strukturen
Und der ist uns geblieben, dieser Widerspruch, auch dann noch, als wir längst nicht mehr im Schosse der römischen Mutter protestierten. Denn mit einem Mal war es ja nicht mehr unsere Kirchenhierarchie, gegen die ein Huldrych Zwingli so leidenschaftlich anpredigte. Mit einem Mal hiess es, die Freiheit nicht nur zu erkämpfen, sondern zu gestalten.
Die Reformatoren nicht nur des 16. Jahrhunderts haben erlebt, was auch heute mancher aufstrebenden Freikirche noch blüht: nach der Euphorie kommt die Ernüchterung. Denn so attraktiv der Widerspruch gegen das kirchliche Establishment immer schon war, so nötig er zweifellos heute noch ist, so wenig taugt er, für sich genommen, als kirchliches Profil.
Noch jede Erneuerungsbewegung ist irgendwann an den Punkt gekommen, da sie selber Strukturen schaffen, selber Regeln niederschreiben musste, wenn sie überleben wollte. Und so sind auch wir, die Protestanten, eines Tages vom Protestieren zum Organisieren übergegangen, haben unsere jungen Kirchen gestaltet, gegliedert, geordnet, haben Verfassungen geschrieben und Reglemente, Pflichtenhefte formuliert, Leitbildprozesse über uns ergehen lassen, Berater angeheuert und deren Umstrukturierungen durchgestanden.
Das sichtbare Profil: Kirche heisst Gemeinde
Was also ist unser Markenzeichen geworden? Was ist unser Profil als Kirche? Sichtbar ist jedenfalls dies: von allen christlichen Konfessionen gehören wir zu denjenigen, die oberhalb der Ortsgemeinde die schwächsten Kirchenstrukturen haben. Kirche, das heisst bei uns weitgehend Kirchgemeinde. Alles, was nach Zentralismus oder gar Hierarchie riecht, hat bei uns grundsätzlich einen schweren Stand. Ähnlich wie in der helvetischen Politik kennen die reformierten Kirchen eine weitgehende Gemeindeautonomie.
Dass deshalb jeder Pfarrer in Glaubensfragen sein eigener kleiner Papst ist, das kann man ihm gewiss nicht zum Vorwurf machen – er hat ja gar keine andere Wahl, als seine eigenen Einsichten weiterzugeben. Es gibt nichts und niemanden „oben" an ihm, nachdem er sich ausrichten könnte oder gar müsste. Kirche heisst eben in erster Linie Gemeinde; das bedeutet auch, dass die Leitungsverantwortung grösstenteils in der Hand der Gemeinde liegt.
Führung ist bei uns kollektive Führung, Gremienarbeit eher als Einzelkämpfertum. Und in all dem gleicht unsere Kirchenlandschaft auffällig der helvetischen Politik. Darum lässt sich mit Fug und Recht sagen: Reformiert-Sein hat etwas Ur-Föderalistisches, und damit, so glaube ich, auch etwas Ur-Eidgenössisches.
II. Reformiertes Profil im grösseren Kontext
Nun zum zweiten Teil, zum grösseren Kontext, in welchem sich dieses Profil heute verwirklicht. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob wir in der reformierten Schweiz genügend wahrnehmen, dass in der Ökumene wichtige und folgenreiche Veränderungen im Gange sind. Unsere „Profilsuche" geschieht ja nicht im luftleeren Raum. Vielmehr sind um uns herum Dinge im Gang, die uns bis ins Gemeindeleben hinein beeinflussen werden, besonders im ökumenischen Dialog.
Um dort nicht Enttäuschungen zu erleben, scheint es mir unerlässlich, dass wir die ökumenische Grosswetterlage immer vor Auge haben. Ich möchte Ihnen deshalb drei solche Entwicklungen vorstellen, eine aus dem Kontext Schweiz, eine aus dem Kontext Europa und eine aus dem Kontext Welt. Ich werde jeweils auch vorschlagen, wie wir auf diese Entwicklungen reagieren könnten.
Kontext Schweiz: Mehrheiten bröckeln ab – Diaspora künftig normal
In der Schweiz ist es eine statistische Entwicklung, die ökumenisch bedeutsam ist: die Konfessionsverteilung in unserem Land ändert sich nämlich spürbar. Vor 50 Jahren bestand die Schweiz zu 56% aus Protestanten und zu 42% aus Katholiken, also etwa halb-halb mit evangelischer Schlagseite. Heute sieht die Situation anders aus: Die Protestanten sind auf 37% zurückgegangen, die Katholiken – nach grösserem Auf und Ab – etwa auf dem selben Stand (44%) geblieben.1
Aber das ist nicht alles: Mit mehr als 130'000 Menschen bildet heute die Orthodoxie in unserem Land bereits die drittgrösste Konfession, viel grösser als die Christkatholische Landeskirche. Die Zahl der Muslime hat sich allein in den letzten zehn Jahren verdoppelt; es sind heute über 300'000.
Die Zahl jener Menschen, die sich als konfessionslos bezeichnen, ist um 50% auf über 800'000 gestiegen. Schwer erfassbar sind die Zahlen der neu entstehenden christlichen Gruppierungen mit charismatischer oder pfingstlerischer Ausrichtung. Aber auch dort ist mit grossem Zuwachs zu rechnen.
Es geht hier nicht darum, diese Zahlen zu kommentieren; die Begründungen für solche Veränderungen sind komplex. Migration spielt mit eine Rolle. Aber es geht um die Erkenntnis, dass die gesamteuropäischen Trends auch bei uns greifen: Die alten Mehrheitsverhältnisse sind am Abbröckeln.
Neue konfessionelle Wirklichkeiten sind im Entstehen. Was weltweit reformierter Alltag ist – das Kleinsein neben den grossen Kirchen – das dürfte dereinst auch dieser oder jener stolzen Schweizer Landeskirchen blühen. Die Reformierten sind statistisch gesehen auf dem Rückzug. Am Horizont winkt auch in der Schweiz die Diaspora.
Option: Reformierte Kräfte bündeln
Umso wichtiger wird es wohl in Zukunft sein, dass wir unsere Kräfte bündeln. Ich weiss nicht, wie lange wir uns den Luxus so vieler Kirchenverwaltungsbehörden noch leisten sollten. Können tun es die grossen Kantone gewiss noch lange – aber wozu? Um zu demonstrieren, dass man unabhängig ist?
Mir scheint, einiges liesse sich gebündelt nicht nur effizienter und damit billiger erledigen, sondern auch auf eine Art, dass tatsächlich reformiertes Profil in der Schweizer Öffentlichkeit erkennbar würde.
Beispiel 1: Wir verdanken es Motionären aus Ihrer Kirche, dass die Beziehungen zwischen den reformierten Kirchen und ihren Hilfswerken und Missionen in Zukunft besser koordiniert werden. In der neuen Kommission für Aussenbeziehungen werden seit diesem Jahr die internationalen Beziehungen aller gesamtschweizerischen Akteure auf einander abgestimmt. Erstmals wird dadurch eine gemeinsame Strategie der reformierten Schweiz möglich.
Beispiel 2: Grundartikel der diversen Kirchenverfassungen; möglicherweise wären auch gemeinsam auf der SEK-Ebene erarbeitete Formulierungen nicht gänzlich unbrauchbar für die Mitgliedkirchen.
Ein kommunizierbares Profil braucht Instrumente am richtigen Ort, und die sind zunehmend nicht mehr einfach in der Gemeinde oder im kantonalen Kirchenamt anzusiedeln. Nur im Verbund, nur in der Kohärenz bekommt unsere reformierte Stimme Gewicht.
So ziemlich alle Erfahrungen im ökumenischen Dialog haben eines gemeinsam: nicht nur die Gemeinde, nicht nur die Landeskirche, auch die reformierte Schweiz als ganze braucht eine konsistente Stimme. Alle Liebe zur Bekenntnisfreiheit ändert nichts daran, dass wir nach aussen nur profiliert reformiert sprechen können, wenn wir verbindlich sprechen.
Beinahe alle ökumenischen Partner greifen auf eine höhere Integration von Ortsgemeinde (bzw. Ortskirche) und Weltkirche zurück, als wir das tun. (Das gilt nicht nur für die traditionellen Hochkirchen, auch freikirchliche Kreise sind daran, koordinierter aufzutreten als früher.)
Wenn wir unser reformiertes Profil darauf reduzieren, dass wir eben anders sind, dann stellen wir die Profilierung selbst in Frage. Es wird uns möglicherweise nicht mehr gelingen, unsere Werte und unsere Kultur in eine grössere Ökumene einzubringen. Was reformiertes Profil sein könnte, läuft dann Gefahr, sich weiter zu verästeln und schliesslich sprachlos zu werden.
Was spricht gegen eine „reformierte Kirche Schweiz“?
Wir sollten uns darum nicht davor scheuen, über mutige Veränderungen nachzudenken. Im Protokoll Ihrer letzten Zürcher Kirchensynode steht: „Der SEK darf nicht durch die Hintertür zur Reformierten Kirche Schweiz werden." Der Votant hat auf der ganzen Linie recht: Das ist nicht etwas, was sich am kirchenpolitischen Lieferanteneingang besprechen liesse. So etwas Wichtiges gehört nach vorne, ans Hauptportal. Dort allerdings sollten wir offen und ohne falsche Hemmungen darüber reden.
Was spricht denn substantiell gegen eine „reformierte Kirche Schweiz“? Vielleicht gäbe es auch in einer solchen noch mehr als genug Raum für kantonale Autonomie, so wie ja auch jede Kirchgemeinde trotz gemeinsamem Kirchendach ihre Identität bestens bewahrt. Wäre es nicht an der Zeit, etwas mutiger zu werden und in Zwinglis Fussstapfen „um Gottes Willen etwas Tapferes" zu tun?
Das heisst auch semper reformanda (immer zu reformierende Kirche): die neuen Gegebenheiten ernst zu nehmen und proaktiv zu handeln. Viele Profilchen machen noch kein Profil – dazu braucht es Zeichen sichtbarer Einheit.
Kontext Europa: Lutheraner profilieren sich eigenständig
In Europa sind es die widersprüchlichen innerprotestantischen Entwicklungen, die uns zu denken geben müssen. Dabei geht es besonders um die Frage, welche Bedeutung wir der Leuenberger Kirchengemeinschaft (oder wie sie seit diesem Jahr heisst: die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa) beimessen sollen.
1973 auf dem Leuenberg bei Basel gegründet, ist sie bis heute der wichtigste und grösste Zusammenschluss protestantischer Kirchen in Europa. (Ironischerweise wurde sie gerade in der Schweiz nie richtig wahrgenommen, und ihr Basisdokument, die Leuenberger Konkordie, kennt kaum jemand hierzulande.)
Leuenberg hat sich zum Ziel gesetzt, die ‚protestantische Stimme Europas’ zu werden. Trotz grosser Anstrengungen, namentlich auch aus der Schweiz, ist unklar, ob der Kirchengemeinschaft das gelingen wird. Zwar wird ringsum anerkannt, dass protestantisches Profil in den Institutionen Europas nur mit einer profilierten Stimme erkennbar wird.
Aber bekanntlich sind die zentrifugalen Kräfte im Protestantismus sehr stark. Dass die theologischen Differenzen zwischen Lutheranern und Reformierten sehr klein geworden sind, ist unbestritten. Die kulturelle Verschiedenheit aber wird unterschätzt. Ein Schweizer Reformierter und ein lutherischer Däne haben ziemlich disparate Vorstellungen davon, wie man Kirche „macht".
Überhaupt scheint es neuerdings, dass man sich lutherischerseits nicht mehr unbedingt mit den schwierigen Reformierten den Kopf zerbrechen will und stattdessen noch andere Ökumene-Geschwister ins Herz geschlossen hat.
Konkret geht es um wichtige bilaterale Abkommen, in denen reformierte Kirchen nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielen: das Meissen-Abkommen von 1991 zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und den europäischen Anglikanern (allgemeine Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft), das Porvoo-Abkommen von 1996 zwischen Lutherischen Kirchen aus Nordeuropa und dem Baltikum und den anglikanischen Kirchen in England (Abendmahlsgemeinschaft) und die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die 1999 in Augsburg vom Lutherischen Weltbund und der römisch-katholischen Kirche abgegeben wurde.
Solche Vereinbarungen sind in ihrer Tragweite nicht zu unterschätzen: sie beeinflussen ganz konkret das Leben der betroffenen Kirchen, zum Beispiel durch PfarrerInnen-Austausch und intensive Gemeindekontakte. Aber eben: sie finden ohne uns statt. Darum sind sie der Einheit zwischen Lutheranern und Reformierten in Europa – also ‚Leuenberg’ – nicht gerade förderlich.
Im Übrigen denkt der Lutherische Weltbund darüber nach, sich von einem ‚Bund’ in eine ‚Communion’, eine Kirchen-Gemeinschaft, zu verwandeln. Würde ein solcher Schritt vollzogen, dann sähen sich die Reformierten verschiedener Länder einem Luthertum gegenüber, das sich gegenwärtig weltweit eindrücklich profiliert. Mit anderen Worten: Ob die Lutheraner in Europa eher ein gesamt-reformatorisches Profil wie ‚Leuenberg’ oder aber ein ‚global-gemeinschaftlich-lutherisches’ favorisieren, das ist nicht eindeutig.
Kontext Welt: Vatikanische Komplimente für die Orthodoxen
Rom und Konstantinopel nähern sich wieder an. Die beiden alten Kirchen des Westens und des Ostens gehen bekanntlich getrennte Wege. Vieles hat sich unterschiedlich entwickelt; grösster Streitpunkt war und ist die Frage der Autorität des Papstes in der Weltkirche.
Nach fast einem Jahrtausend mehren sich aber heute die Zeichen eines rapprochements, einer Annäherung zwischen dem orientalischen und dem lateinischen Christentum: Kardinal Kasper, der vatikanische Chef-Ökumeniker, hat kürzlich betont, Ost und West hätten sich nicht aus dogmatischen Gründen getrennt. Vielmehr hätten sie sich bloss «lebens- und mentalitätsmässig entfremdet». Mehr noch: sogar in der Frage des Petrusamtes (Stellung des Bischofs von Rom; Red.) sei Bewegung in die Gespräche gekommen.
Wer sich an das vatikanische Lehrschreiben «Dominus Jesus» erinnert, denkt unmittelbar an die Aussage, wonach einzig die römisch-katholische und die orthodoxen Kirchen als echte Schwesterkirchen zu verstehen seien. Es ist nur folgerichtig, wenn aus der dogmatischen Einheit jetzt die pragmatische Annäherung wird. Mit andern Worten: Rom und Konstantinopel, theoretisch immer schon eine Einheit, sind auf dem Weg, einander auch praktisch wieder näher zu kommen.
Wichtig: Diese Annäherung ist nicht bloss eine bilaterale Sache, sie hat Auswirkungen auf die ganze Ökumene. Die unverhohlene Kritik der Orthodoxen am Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf ist auch auf dem Hintergrund dieses erstarkenden Einheitsgefühls mit Rom zu sehen. Die episkopal (bischöflich) verfassten Kirchen besinnen sich auf ihre besondere Nähe zueinander.
Wir beobachten also ein Erstarken einer Art von «Episkopal-Ökumene», die – bewusst oder unbewusst – ohne den Protestantismus stattfindet. Denn in einem sind sich Rom und Konstantinopel einig: wahre Kirche ist im Protestantismus nicht direkt zu finden, bloss «kirchliche Gemeinschaften».
Übrigens suchen auch die Anglikaner, immerhin rund 80 Millionen Menschen weltweit, aktiv nach mehr Gemeinschaft mit der römisch-katholischen Kirche. Ein anglikanisches Bischofstreffen im vergangenen April hat festgehalten: «Wir ermuntern unsere Provinzen und Kirchen, diese neue Etappe auf dem Weg zu einer vollen und sichtbaren Einheit zwischen der römisch-katholischen Kirche und der anglikanischen Gemeinschaft zu unterstützen». Die Episkopal-Ökumene ist auch hier in Aufbruchstimmung.
III. Subsidiarität als Grundform der Kirche
Meine Damen und Herren, wir haben mit der Frage begonnen, was denn reformiertes Profil ausmache. Daran angeschlossen habe ich einige Überlegungen zum grösseren ökumenischen Kontext. Wenn meine Beurteilung stimmt, dann wäre es an der Zeit, das reformierte Profil für unsere Zeit zu konkretisieren.
Die Gemeinde als Kirchensouverän
Reformiertes Profil hat etwas Ur-Eidgenössisches. Das gilt im Guten wie im Schlechten. Im Guten heisst das: wir dürfen in einer Kirche leben, die jeden einzelnen Menschen ernst nimmt und ihm eine grosse kirchliche Verantwortung überträgt. Wir dürfen in einer Kirche leben, die die Ortsgemeinde als ihren Souverän versteht und ihr damit die oberste kirchliche Gewalt zuspricht.
Hier kommt etwas zum Ausdruck, was in dieser Form ökumenisch aussergewöhnlich ist. Jedes einzelne Kirchenglied übernimmt Verantwortung für die Gesamtkirche. Das Volk Gottes bestimmt selber über die Gestaltung des kirchlichen Lebens. Keine Hierarchie und kein Amt steht über den getauften Männern und Frauen in den Kirchgemeinden. Umgekehrt ist es bei uns: Amt und Kirchenleitung stehen im Auftrag der Basis und dienen ihr dort, wo wir sie brauchen.
Die erste kirchliche Ebene, die Gemeinde eben, delegiert nur jene Aufgaben nach oben, an eine gesamtkirchliche Instanz, die sie nicht selber erfüllen kann. Die Gemeinde behält dabei alle Freiheit, solche Kompetenzen auch wieder an sich zu nehmen. Das verlangt übrigens ziemlich viel Eigenverantwortung: „Selber denken" bekommt da eine ziemlich anspruchsvolle Note. Es ist nicht immer angenehm, alles „von unten her" selber zu denken!
Die Ortskirche in der Weltkirche
Aber eben: alles Ur-Eidgenössische kann missverstanden werden. Subsidiarität kann nicht heissen, dass es über der Gemeinde keine Kirchlichkeit, ja, nennen wir es beim Namen: keine Geistlichkeit geben kann.
Das Ur-Protestantische birgt auch eine Gefahr in sich: das Sich-Ein-Igeln, den Isolationismus. Wir meinen zuweilen, alles im Alleingang machen zu können und machen zu müssen. Aber nicht alles, was für die Gemeinde relevant ist, wird auch in der Gemeinde entschieden. Nicht alles, was für die Landeskirche relevant ist, lässt sich kantonal regeln.
Und nicht alles, was für den Kirchenbund relevant ist, wird in der Schweiz vereinbart. Manches, was eine Synode beraten muss, wurde andernorts auch schon verhandelt. Es ist eben ein Fehler, Ortskirche und Weltkirche gegeneinander auszuspielen.
Leib Christi kann niemand für sich allein sein. Die Ortskirche ist nur Ortskirche als Teil der Weltkirche. Die Weltkirche ist nur Weltkirche je vor Ort. Nie ist das einleuchtender, offensichtlicher gewesen als in unserer Zeit, einer Zeit, die Antworten braucht auf die grossen Fragen der Globalisierung. Der ekklesiologische (das Kirchenverständnis betreffende) Alleingang führt zuverlässig in die kirchenpolitische Sackgasse.
Vom Gemeindeprinzip zum Subsidiaritätsprinzip
Und was hat das mit unserem Profil zu tun? Es lässt sich nun eben neu in Worte fassen. Bisher haben wir vom Gemeindeprinzip gesprochen. Kirche ist also Gemeinde, Kirche ist unten.
Ich schlage vor: sprechen wir stattdessen vom Subsidiaritätsprinzip: das heisst nicht einfach Kirche „unten", sondern Kirche von unten, von der Basis aus. Wichtig ist nicht, dass Kirche nur Gemeinde sein soll, unverzichtbar ist vielmehr, dass alle Entscheide, alle kirchliche Gewalt von unten, von der Basis, von der Gemeinde ausgehen soll.
Das sichtbare Profil der reformierten Kirche ist das Subsidiaritätsprinzip: Entschieden wird von unten her, von den Männern und Frauen, die miteinander als Volk Gottes unterwegs sind. Aber entschieden wird für eine Kirche, die immer auch mehr ist als Gemeinde, mehr als eine kantonale und mehr als eine schweizerische Institution. Entschieden wird an der Basis für eine – im ursprünglichen Sinn des Wortes – katholische Kirche. Man kann auch reformiert katholisch sein.
Das ist reformiertes Kirchenprofil in aller Schärfe, in aller Klarheit – und doch auch in aller Offenheit für den grösseren Kontext, in dem wir leben. Denn dann können wir unverkrampft über neue nationale und internationale Formen unserer Kirche nachdenken, ohne auf den unbedingten Vorrang der Gemeinde zu verzichten.
Kernstück unseres Kirchenprofils ist das Subsidiaritätsprinzip. Das unterscheidet uns ökumenisch eindeutig genug. Vielleicht dürften wir deshalb andere Fragen kirchlicher Sichtbarkeit eine Spur gelassener diskutieren, als wir es oft tun. Wir hätten nämlich alle Freiheit, Ämter und Strukturen so auszuformen, dass sie dem Subsidiaritätsprinzip Genüge tun. (Kürzlich hat sich jemand offensichtlich in ein reformiertes Fettnäpfchen gesetzt mit der Ansicht, dass auch ein Bischofsamt durchaus reformiert sein könnte – vorausgesetzt, es unterstehe dem Subsidiaritätsprinzip.)
Handlungsfreiheit zurückgewinnen
Ich komme zum Schluss. Wir sind Christen, und wir sind Protestanten. Unsere kirchliche Identität gründet im Widerspruch, im Protestieren gegen Kirchenstrukturen, die die Menschen unfrei gemacht haben. Mir scheint, es ist wieder an der Zeit zu protestieren.
Auf eine andere Art sind wir heute unfrei geworden mit unseren Strukturen: wir verspielen unsere Handlungsfreiheit durch ein absolut gesetztes Gemeindeprinzip, durch ein Anders-Sein-Wollen, das sich an Sekundäres klammert, statt sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Das Wesentliche ist die Souveränität des Volkes Gottes gegenüber kirchlichen Leitungsstrukturen, eben das Subsidiaritätsprinzip. Wichtig, aber sekundär sind die sichtbaren Formen kirchlicher Wirklichkeit. Wenn wir ein reformiertes Profil wollen, dann bitte an der richtigen Stelle. Nicht alles, was wir uns so als gutprotestantisch zurecht gelegt haben, ist es auch tatsächlich. Das Anders-Sein hat auch seine Grenzen – solange uns daran liegt, mit allen Christen weltweit in einer sichtbaren Form Kirche zu sein. Zum Leib Christi gehören auch wir.
Wir sollten die Lust am Widerspruch nicht verlieren. Die Ökumene braucht Protestanten. Und wir brauchen die Ökumene auch. Hören wir also gelegentlich auch auf die Ökumene und widersprechen wir uns selbst. Sagt doch auch der grosse Huldrych Zwingli: „Sich selber für fehlerlos halten, das ist die grösste Sünd!"
Ein Grossteil der weltweiten Ökumene hat andere Vorstellungen vom Kirchesein als wir. Worauf Sie mir natürlich ebenfalls mit Zwingli antworten könnten: „Die Mehrheit macht noch nicht die Wahrheit." Und wer wäre ich, dem gelehrten Zürcher zu widersprechen.
Bevor Sie nun aber Gelegenheit bekommen, mir zu widersprechen, vergessen Sie nicht ein drittes und letztes Zwingli-Wort, das da lautet: „Auch ein geringer Mann findet zuweilen ein gutes Wort." – Ich danke Ihnen.
Pfr. Dr. theol. Gottfried Wilhelm Locher leitet die Abteilung Aussenbeziehungen des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes und pflegt die ökumenischen Beziehungen des SEK auf nationaler und internationaler Ebene. Er ist auch im Beirat von Livenet vertreten.
Webseite: www.sek-feps.ch
Autor: Gottfried W. Locher
Datum:
28.11.2003
Quelle: Livenet.ch
Quelle: Livenet.ch
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