Die
Tage werden kühler und so werden besonders die Nächte für Obdachlose sehr
ungemütlich. Das Diakonieprojekt Netz4 wirkt in der Stadt Zürich und ist für solche Leute da. Livenet wollte genauer wissen, wie es um die Menschen auf der Strasse steht.
Das
Netz4 bietet einen Ladies Corner, Freizeit für Jugendliche und hat offenes Ohr
und Arme für Flüchtlinge, Armutsbetroffene und viele mehr.
Es
gibt unzählige Gründe, weshalb ein Mensch obdachlos wird: Psychische
Erkrankung, Sucht, Schicksalsschläge oder ein fehlender Aufenthaltsstatus
können Ursachen sein. Nicht zuletzt sind viele der Obdachlosen Arbeitsmigranten aus unterschiedlichen Ländern. Den typischen Obdachlosen gibt
es nicht, und einer Mehrheit der Betroffenen sieht man ihre Obdachlosigkeit auch
nicht an.
Jürg Geilinger hat das
Angebot «Ä Nacht schänke» gegründet und übernimmt bis heute die Verantwortung
während der Nächte. Er ist davon überzeugt, dass es nicht in erster Linie die
Obdachlosen sind, welche die Kirche brauchen, sondern dass jede Kirche davon
profitieren kann, wenn sie sich für Menschen am Rande der Gesellschaft einsetzt:
«Wenn man mit Randständigen zusammen ist, dann erlebt man Gottes Gegenwart von
einer ganz anderen Seite. Es schadet der Kirche nicht, wenn sie ihre
Komfortzone verlässt.»
Im Auseinandersetzen
mit der Thematik, muss man immer wieder staunen, wie solche Schicksale entstehen
und wird den Gedanken nicht los, dass es jeden treffen könnte.
Hanna Habegger (Bild: zVg)
Livenet war mit der Sozialarbeiterin des Netz4, Hanna Habegger, im
Gespräch.
Erzählen Sie uns bitte von einer Lebensgeschichte,
wie jemand in die Obdachlosigkeit geraten ist.
Hanna Habegger: Emilia (Namen geändert) war eine
ältere Frau, die wann immer sie konnte, in der EMK Zürich übernachtete. Sie
hatte zwar ein Zuhause, konnte es aber nicht mehr betreten, weil es mit Abfall
vollgestopft war. So zog sie mit ihren Taschen durch Zürich. Der Kontakt zu
ihrer Familie war schon länger abgebrochen und sie litt an einer beginnenden
Demenz. Aber eine Sache wusste sie ganz sicher und sie erzählte allen Menschen
davon: «Gott liebt dich, er liebt dich so!» Manchmal sass sie tränenüberströmt
da und sagte: «Ich kann es kaum glauben, dass Gott mich
liebt. Ich habe so viele Sünden begangen, aber Gott hat mir vergeben.» Einmal
erwähnte sie beim Abendessen, dass ihr Schwiegersohn ein bekannter Unternehmer
sei. Mir gelang es, den Mann im Internet zu finden und kontaktieren. Er war
überglücklich. Emilia wollte ihr Leben auf der Strasse fortsetzen, aber sie
blieb von da an in Kontakt mit ihrer Familie. Manchmal besuchten sie ihre Enkel
in den Räumlichkeiten der EMK Zürich und spielten mit der obdachlosen Grossmutter.
Erst als Emilia an Krebs erkrankte, war sie bereit, zu ihrer Tochter zu ziehen.
Dort wurde sie liebevoll betreut und ist jetzt bei ihrem Gott, den sie so sehr
geliebt hat.
Wie schlagen sich Obdachlose durch den Alltag, welche
Einkünfte haben sie?
Wenige Obdachlose betteln, um ihren Lebensunterhalt zu
verdienen, andere wissen sich bei den unterschiedlichen sozialen Angeboten der
Stadt zu verpflegen. Manche gehen tagsüber einer normalen Arbeitsstelle nach
und rollen dennoch abends ihren Schlafsack an einer geschützten Stelle auf der
Strasse aus. Die meisten sind psychisch krank.
Von der Öffentlichkeit meistgehend unbemerkt übernachtet
eine Vielzahl von Menschen ohne Obdach auf unseren Strassen. Viele von ihnen
fallen durch alle Maschen des Sozialhilfesystems und finden aus
unterschiedlichen Gründen keine Aufnahme in den offiziellen Notschlafstellen
der Städte. Gleichzeitig stehen viele Kirchengebäude oft leer und
könnten für die Bedürfnisse der Menschen am Rande der Gesellschaft genutzt
werden.
Welche Wege gibt es, damit Menschen wieder zu Obdach finden?
Felipe (Namen geändert) war während seiner Zeit als Obdachloser stets im Anzug gekleidet und gepflegt unterwegs. Sein Leben verlief mit einer guten Arbeitsstelle,
Familie mit Kind und Einfamilienhaus in normalen Bahnen, als ihn eines Tages
die Polizei wegen Pädophilie verhaftete. Felipe beteuerte seine Unschuld, die
nach einiger Zeit auch vom Gericht bestätigt wurde. Dennoch war eine Rückkehr
in sein gewohntes Leben nicht mehr möglich. Nicht nur seine Frau hatte sich von
ihm abgewandt und erwirkt, dass er sein Kind nicht mehr sehen durfte, auch
seine Arbeitsstelle hatte er verloren.
So kam es, dass Felipe psychisch krank
und obdachlos wurde. Im «Nähcafé» des Netz4 haben wir zehn Nähmaschinen und
Materialien zum Nähen, die wir den Menschen zur Verfügung stellen. Felipe
brachte sein kaputtes Zelt und seinen Schlafsack, den die Mäuse angeknabbert
hatten, um sie mit meiner Hilfe zu reparieren. So habe ich Felipes
Lebensgeschichte erfahren. Er lebte eine Zeitlang in einem Zelt im Wald, war
enttäuscht von Gott und Menschen und sehr verbittert. Über einen Kontakt
innerhalb der Kirche hat er ein Obdach gefunden, eine einfache Absteige. Immer
noch kommt er wöchentlich in die Angebote des Netz4, denn er schätzt die
Gemeinschaft und die Menschen, die ihm zuhören.
Was kriegen die Benutzer vom christlichen Geist und
Hintergrund der Angebote mit?
Gerade bei obdachlosen Personen dauert es oft sehr lange,
bis sie Vertrauen fassen und wir mit ihnen zusammen besprechen können, welche
Schritte sie gehen können, um aus der Obdachlosigkeit zu kommen. Wir arbeiten
mit unterschiedlichen Fachstellen zusammen und leisten professionelle Soziale
Arbeit. Gleichzeitig sind wir mit den Menschen auch seelsorgerlich unterwegs.
Vor dem Abendessen und Frühstück nehmen wir uns Zeit für eine Andacht, lesen
einen Text aus der Bibel, tauschen aus und beten gemeinsam. Mich berührt es
oft, wie unsere Gäste mit Gott unterwegs sind und wie sie seine Liebe in einer
grossen Tiefe erfassen. Gerade das gemeinsame Gebet wird von vielen Gästen sehr
geschätzt.
Wie ist das Angebot für Obdachlose genau gestaltet?
Die zehn Schlafplätze sind in der Regel ausgebucht,
während des Winters müssen meistens zusätzliche Notsuchende abgewiesen werden.
«Ä Nacht schänke» ist ein gemeinschaftliches Angebot. Obdachlose Menschen
empfangen nicht nur Hilfe, sie packen auch ganz praktisch mit an. Sei es beim
Kochen oder Abwaschen, beim Reinigen der Duschen, beim Aufstellen der Betten im
Kirchenraum und beim Aufräumen am nächsten Morgen.
Zur Abrundung noch die Stimme eines Teilnehmenden:
«Ich bevorzuge es, unter freiem Sternenhimmel zu
schlafen, aber einmal pro Woche warm essen, duschen und an einem warmen Ort zu
übernachten bedeutet mir viel und gibt mir eine Pause im Kampf ums Überleben.
Wenn ich obdachlose Menschen antreffe, die erst seit kurzem in Zürich
verweilen, nehme ich sie mit zum Netz4. Sie sind nicht nur froh, ein Dach über
dem Kopf zu haben, sie profitieren auch davon, dass man im Netz4 Informationen
austauscht und immer ein offenes Ohr für seine Sorgen findet.»
Hat Sie
dieses Interview berührt? Als Spendenwerk bekommt auch Livenet die weltweite Krise zu spüren.
Gerade deshalb ist es nötig, dass wir Hoffnung verbreiten.
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