Im Dezember öffnete in Thun ein temporäres Bundesasylzentrum für 600 Flüchtlinge. Unmittelbar danach formierte sich eine beispielhafte Zusammenarbeit von Kirchen, Behörden und Bevölkerung, um Zentrum und Bewohner zu unterstützen.
Deutschkurs mit Erika Urech
Kaffee und Guetsli sind parat, die Stühle gestellt, eine letzte kurze Besprechung – der Unterricht kann beginnen. Zunächst trudeln allerdings nur vier Kursteilnehmer ein. Liegt es am nasskalten Wetter, dass einige den Weg vom Bundesasylzentrum (BAZ) auf dem Thuner Waffenplatz bis zur Gemeinde der BewegungPlus auf der anderen Seite der Aare heute nicht finden? Erika Urech, die Leiterin des Deutschkurses, lässt sich von der begrenzten Zahl nicht irritieren. Wie immer ist sie mit voller Leidenschaft bei der Sache, wenn sie versucht, die Asylsuchenden in die Tücken der deutschen Sprache einzuweihen. Warum heisst es der Arm, aber das Bein? Man möchte nicht mit den Schülern tauschen! Erika schafft es mit ihrer ansteckenden Art, die Bedauernswerten zu motivieren. Viel kann man den Bewohnern des BAZ in den nur etwa vier Wochen ihres Aufenthaltes natürlich nicht beibringen. Sie bleiben nur solange, bis man weiss, was weiter mit ihnen geschieht. 40 Prozent der ausschliesslich männlichen Flüchtlinge im Thuner Zentrum werden direkt wieder ausgewiesen, die anderen auf die Kantone verteilt, bis sich entschieden hat, ob sie bleiben dürfen oder auch gehen müssen. Trotz dieser Ungewissheit machen sie «extrem gut mit», findet Erika Urech.
Das liegt natürlich zum Teil an ihr. Hamed aus Afghanistan versichert: «Hier kann man besser Deutsch lernen als in der Stadt. Erika ist eine gute Lehrerin, weil sie ausschliesslich Deutsch spricht und nie Englisch.» Bereits seit zehn Jahren bietet Erika in der BewegungPlus Sprachkurse an, die in Thun einen sehr guten Ruf haben. Nachdem klar war, dass das BAZ kommt, war es nur natürlich, dass sie auch hier helfen würde.
Zwei Panzerhallen für Flüchtlinge
Erika Urech
Im November letzten Jahres war die Stadt am Tor zum Berner Oberland praktisch vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Wegen der anhaltend hohen Asylgesuchzahlen suchte der Bund dringend eine Unterkunft für weitere 600 Flüchtlinge. Auf dem Waffenplatz Thun wurden daraufhin zwei Panzerhallen freigeräumt, in denen sich nun das temporäre Verfahrenszentrum des Bundes befindet. Wenn nichts dazwischenkommt, wird es bis Ende Mai Bestand haben. Die Thuner Kirchen verloren keine Zeit. Der EVP-Politiker und Berner Grossratspräsident Marc Jost bot in einem Schreiben an die Allianz-Gemeinden der Region seine Unterstützung an, falls man sich zusammensetzen und nach Hilfsmöglichkeiten suchen wollte, was daraufhin auch rasch geschah. Die Arbeitsgemeinschaft der Kirchen in Thun AKiT (Reformierte, Katholiken u.a.) entsandte ebenfalls Delegierte. Ohne lange zu diskutieren, wurden die Kirchen aktiv. Noch im Dezember startete eine Kleidersammlung in der Pfingstgemeinde Thun. Mit Erika Urech und Hans Weber, dem Delegierten der AKiT, bestimmte man zwei Personen, die mit dem BAZ in ständigem Kontakt stehen und die Projekte koordinieren. «Das BAZ war von Anfang positiv gegenüber unseren Angeboten eingestellt», berichtet Marc Jost. Die Zentrumsleitung teilte den Kirchen beispielsweise mit, dass einige der Flüchtlinge gerne einen Sonntagsgottesdienst besuchen würden. Diese liessen sich nicht lange bitten und organisierten Fahrdienste zur katholischen Messe sowie zu einigen freikirchlichen und fremdsprachigen Gottesdiensten. Die Reformierten stellen der Gruppe «Thun4Refugees» am Freitagnachmittag ein Kirchgemeindehaus für «Talk and Tea» mit den Flüchtlingen zur Verfügung. Im Januar kamen dann noch der Deutsch- und Kultur- Crash-Kurs in der BewegungPlus, ein Internetcafé in der EMK und ein «Open Church»-Angebot mit einer einfachen Liturgie in der FEG dazu.
«Hut ab, die Freikirchen arbeiten wirklich gut»
Marc Jost
Alle Angebote werden vom BAZ geprüft und sowohl mit der Stadt Thun als auch mit der Gruppe «Thun4Refugees» abgestimmt. Das Internetcafé in der EMK ist nur am Montag geöffnet, wenn die Stadtbibliothek geschlossen hat. Die Stadt Thun verzichtete auf eine eigene Kleidersammlung und schickt die Spender zur Pfingstgemeinde. So nehmen sich Stadt und Kirchen gegenseitig Dienstleistungen ab. Man steht im ständigen Kontakt miteinander, die Zusammenarbeit läuft reibungslos. «Das BAZ ist sehr dankbar, die vielen Angebote nicht selbst koordinieren zu müssen und nur mit zwei Personen zu kommunizieren», sagt Marc Jost. Eine so gut organisierte Hilfe hätten diese noch nicht erlebt. «Wir sind mit der Zusammenarbeit mit unseren Partnern sehr zufrieden und dankbar für die geleisteten Beiträge. Wir begrüssen den Einsatz der Bevölkerung zugunsten der Asylsuchenden und sind froh, dass Angebote mit der Zentrumsleitung abgesprochen werden», bestätigt das BAZ gegenüber idea. Die Thuner Kirchen haben es geschafft, schnell und unkompliziert auf einen Nenner zu kommen. Die Treffen seien «sofort professionell» geworden, erklärt der AKiT -Delegierte Hans Weber. Der Katholik kennt keine Berührungsängste gegenüber Freikirchen. Ihn interessiert das Projekt sozusagen auch aus wissenschaftlicher Perspektive. «Wir haben genug Gemeinsamkeiten, um Synergien zu schaffen. Die Unterschiede können wir ausklammern», ist der pensionierte Unteroffizier überzeugt. Vom Engagement und der Einstellung der Thuner Allianzgemeinden zeigt er sich beeindruckt: «Ich war sehr überrascht, wie freundlich und zuvorkommend ich hier behandelt wurde. Hut ab. Die Freikirchen arbeiten wirklich gut, ohne dass das immer in der Presse erscheint.»
Vorwurf der «Missionierung» greift ins Leere
Hans Weber
Natürlich blieb das kirchliche und freikirchliche Engagement nicht unbemerkt und bald wurden auch skeptische Stimmen laut. Fast unvermeidlich folgte der Vorwurf der «Missionierung». Sogar das Schweizer Radio SRF wurde aufmerksam und fragte bei Regina Spiess von «Infosekta» nach, die einmal mehr ihre kritische Haltung unterstrich: «Der Missionsauftrag steht bei Freikirchen und jeder Art von evangelikalem Glauben im Zentrum.» Mit anderen Worten: «Die wollen nur missionieren.» Interessanterweise sind von Seiten des BAZ nie derartige Vorbehalte formuliert worden. Mit zum Ersten, wonach viele Flüchtlinge fragen, gehören Bibeln. «Wenn die Leute von sich aus das Bedürfnis äussern, dann geben wir ihnen natürlich die Möglichkeit, einen Gottesdienst zu besuchen oder eine Bibel zu bekommen», so Marc Jost. «Wir wollen ihnen auch als Kirchen zur Verfügung stehen.» Es sei aber nie daran gedacht worden, «einfach mit Traktaten auf die Menschen loszugehen», betont der Co-Generalsekretär der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA). Man wolle den Bedürftigen in ihren Nöten umfassend helfen. Erika Urech versichert ebenfalls, dass die Arbeit nicht «zum Missionieren missbraucht» werde. Urech beruft sich auf Matthäus 25,35 ff: «Jesus ruft uns hier eigentlich zu Sozialarbeit auf. Und das machen wir.» Sie ergänzt: «Die Leute spüren eh ganz genau, was meine Motivation ist. Wenn sie merken, dass ich sie nur 'bekehren' will, dann kommen sie nicht wieder. Jeder, der kommt, kommt gerne und freiwillig.» Natürlich könne man mit einzelnen über den Glauben ins Gespräch kommen, das sei etwa mit Muslimen etwas ganz Normales. Aber sie hält fest: «Wir haben den Auftrag, zu essen und zu trinken zu geben. Salz und Licht zu sein. Aber wenn wir denken, die jetzt bekehren zu müssen, dann machen wir etwas falsch.»
Was benötigen die Flüchtlinge denn vor allem? «Die Leute brauchen vor allem Begegnung», betont Erika Urech. «Dort, wo Beziehungen und Kontakte wachsen, entsteht Vertrauen.» Hans Weber: «Wir müssen diese Menschen nicht aus lauter Barmherzigkeit unterstützen. Das nützt denen nichts. Wir begegnen ihnen auf Augenhöhe und im gegenseitigen Respekt.» Wichtig seien vor allem Informationen – auch kultureller Natur.
Helfen, ohne blauäugig zu sein
Versammlung im BAZ
Bei allem Engagement sind die Beteiligten nicht blauäugig. Viele der Flüchtlinge kommen aus armen Ländern und «mit der Illusion in die Schweiz, dass alle nett sind und sie Arbeit haben werden», so Erika Urech. «Wir brauchen uns nichts vorzumachen. Das sind Menschen wie wir auch. Wir haben es einfach besser gehabt, aber sie suchen ebenfalls das Beste.»
Was auch immer die einzelnen Beweggründe sein mögen, sie ändern nichts an der Tatsache, dass die Menschen nun einmal da sind, in einer äusserst heiklen Situation stecken und Hilfe brauchen. Mit dieser pragmatischen Haltung gehen viele Thuner das Thema «Bundesasylzentrum» an, ohne lange zu politisieren. Dass gerade die Kirchen, wenn sie zusammenspannen, einen einzigartigen Beitrag in der Gesellschaft leisten können, das zeigt sich in Thun auf eindrucksvolle Weise.
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