Wir könnten jetzt miteinander zu ringen beginnen, welches Heimatverständnis das richtige sei, so wie die Theologen über Gottesbilder streiten. Fruchtbarer scheint mir zunächst diese Frage:
Welches Heimatbild tragen wir im Herzen? Ein Gedankengang von Daniel Zindel.
Der Begriff «Heimat» ist wie eine grosse Lego-Platte: Man kann alles darauf bauen, was einem gefällt. Man kann sein Geschichtsbild, seine Zukunftsangst und seine Gegenwartsanalyse darauf konstruieren. Heimat ist ein Containerbegriff. Rechtsnationale Kräfte scheinen ihn bei uns gepachtet zu haben und befeuern damit ihre Migrations- und Abschottungspolitik gegen die EU. Unsere Touristiker laden ihn romantisch mit viel Land- und Bergliebe auf und verzieren ihn mit Folklore, Heimatwerk und Trachtengruppen. Der Heimatbegriff wird aus Marketinggründen ökonomisch aufgepumpt, um Produkte aus der Region für die Region zu verkaufen. Solche Instrumentalisierungen werden schnell durchschaut, so man denn will. Doch welches Heimatbild tragen wir im Herzen?
Das Heimatbild des Herzens
Daniel Zindel (Bild: idea Schweiz)
Eine Heimat zu haben ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Heimat war in meinem Leben immer schon da. Ich bin zwar nicht in meine Heimat in den Bergen hineingeboren worden, aber just zu der Zeit, wo man sich aus dem Schoss der Familie wagt, habe ich hier meine frühen Sozialisationserlebnisse mit Menschen und der Umgebung gemacht und mir so meine Heimat aufgebaut und erworben. Sie wurde mir nie geraubt. Ich habe sie nie wirklich verlassen, ausser für Studienzwecke und Auslandsaufenthalte in meinen Lehr- und Wanderjahren. Und in diesen Zeiten hatte ich Heimweh nach den Bergen. Es war nicht gerade so stark wie bei den Schweizer Söldnern, denen verboten war, das Alphorn zu blasen, weil sie dann alle desertiert wären. Aber auch mich zog es in die Berge zurück. Ich habe dann in meiner alten Heimat meine Familie gegründet und fühle mich als Einheimischer.
Das Kostbare ist die Vertrautheit
Ich schreibe diese Zeilen über Heimat in einer gemieteten Alphütte. Sie liegt auf gut 1'500 Metern auf dem Furnerberg. Dieses Refugium, wohin ich mich zur Sammlung und Erholung zurückziehe, liegt eine gute halbe Stunde von unserem Wohnort entfernt. Ich habe von hier eine wundervolle Aussicht in die Berge, von denen ich die meisten mit Namen kenne. Mit vielen Gipfeln verbinden mich Geschichten. Ich gehöre hierher. Ich gehöre dazu. Das ist ein Teil von mir. Das hat mich geprägt. Ich bin dankbar und ein bisschen stolz.
Heimat ist Ausdruck und Ermöglichung von Identität und Partizipation. Ich erlebe sie als sicheren, überschaubaren Ort. Ich kenne nicht nur die Sprache, sondern vermag in der Kommunikation auch das Unausgesprochene bis hin zum feinsten nonverbalen Code zu deuten. Ich erkenne die verschiedensten Färbungen des Humors und merke, wenn er in Sarkasmus kippt. Das Kostbare an meiner Heimat ist meine Vertrautheit mit dem Raum, die Zugehörigkeit zum sozialen Gefüge, das Verwobensein meiner Geschichte und der Geschichte meiner Sippe mit der Region. Heimat ermöglicht mir ein entspanntes, berechenbares Leben, bei dem ich weiss, wer ich bin, wo ich bin und woran ich bin.
Fremde als Gäste
Für mich gehören zur Heimat auch die Fremden. Sie passen einfach ins Bild unseres Tourismuskantons. Sie ermöglichen uns durch ihr Geld nicht nur unser Auskommen, sie bringen auch die weite Welt in unsere engen Bergtäler. Wer eine Heimat hat, kann andere beherbergen und beheimaten. «Sollen wir aber Gastfreundschaft üben können, so müssen wir den, der draussen ist, hereinholen, wir müssen ihm eine Heimat bieten können. Dazu müssen wir erst selber eine haben», schreibt Romano Guardini in seinen Briefen über die Selbstbildung. Menschen mit einer Heimat sind sicher verankerte Menschen und können Fremde empfangen. Deren Andersartigkeit wird bei aller Irritation durch die Unterschiedlichkeit letztlich als Ergänzung und Bereicherung erlebt. Beheimatete Menschen fühlen sich nicht so schnell bedroht.
Wohlgemerkt, die Fremden sind gut zahlende Gäste und gehen wieder! Umso mehr brauchen wir eine Verankerung in einer äusseren und inneren Heimat, wenn die Fremden bleiben und wir dafür auch noch aufkommen müssen.
Heimathörigkeit
Es fällt uns nicht schwer, die Not und das Weh der Heimatlosen zu erfassen, ihre Bilder verfolgen uns in den Schlaf. Aber nehmen wir an dieser Stelle auch einmal die Gefährdung derjenigen in den Blick, die immer zu Hause geblieben sind. Sprechen wir von den unguten Nebenwirkungen der Heimat auf die, die sie nie verlassen haben, die mental in ihrem Bann stehen und im Sog von Sippe und Talenge verkümmern. Man stagniert in einem etwas spiessigen, kleinräumigen Denken, weil der grosse Horizont fehlt.
Heimat kann zur Heimathörigkeit verkommen, weil die kleine Welt alles bestimmt. Es stellt sich eine «lähmende Gewöhnung» (Hermann Hesse) ein, weil man zu Aufbruch und Reise nicht bereit war. Man hat nicht eine Heimat, sondern die Heimat hat einen mit all ihren Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten. Man wird oberflächlich, träge und überheblich und setzt geistig und geistlich Fett an. Mit dem eigenen Grund und Boden und der Immobilie ist man reich und immobil geworden, und damit ist auch gleich die Angst eingezogen, den Besitzstand zu verlieren.
Ich erlebe als Einheimischer unsere Zugezogenen oft als wacher, agiler, flexibler, geistig und spirituell sensibler. Sie wurden aus ihren selbstverständlichen, vertrauten Sicherheiten in die Fremde hinauskatapultiert. Haben sie sich gerade durch den Verlust ihrer sichtbaren und äusseren Heimat auf die Suche nach einer inneren aufgemacht? Wurde ihr Gang in die äussere Heimatlosigkeit zu einer Suchbewegung nach dem letzten Grund, der allein trägt? Ist nicht jeder Verlust, insbesondere auch das Loslassen der Heimat, wie eine Initialzündung zu einer noch besseren Beheimatung? Wer emigriert, transzendiert oder resigniert.
Konservativ und progressiv zugleich
Wie können wir, die zu Hause Gebliebenen, zu innerer Wachheit finden und an Weite hinzugewinnen? Indem wir unsere Heimat als etwas Dynamisches betrachten und sie aktiv mitgestalten, statt sie in ein Heimatmuseum verwandeln zu wollen. Wir sind dann in einer guten Balance konservativ und progressiv zugleich. Wir bewahren nicht Asche auf, sondern hüten ein Feuer. Wir betreiben aktiv Wirtschafts-, Siedlungs-, Tourismuspolitik. Die Liebe zur Heimat gestaltet. Sie hat Mut zu Neuem. Wir betreiben auch eine mutige Migrationspolitik und unterscheiden klar, wer für immer da bleiben kann und wer nur vorläufig aufgenommener Gast ist. Die einen sollen sich konsequent integrieren, was auch uns eine Leistung abfordert, die anderen jedoch verabschieden wir konziliant und konsequent.
Den Blick in die Weite behalten wir auch, wenn wir Heimat nicht nur als etwas autochthon Gewachsenes betrachten, sondern als Gemisch von Eigenem und Fremdem. Der Name meines alteingesessenen Geschlechts kommt sehr wahrscheinlich aus Rumänien und ist von «Gesindel» abgeleitet. Oder nehmen wir den Jass. Er gilt als das schweizerische Nationalspiel. Wir pflegen das Jassen mit Stolz als einheimisches Kulturgut. Kaum einer weiss, dass das Spiel ursprünglich von den Sarazenen nach Europa eingeführt worden ist. Sie wussten offenbar nicht nur mit dem Krummsäbel, sondern auch mit Karten geschickt umzugehen. Es seien dann Schweizer Söldner in niederländischen Diensten gewesen, welche die Jasskarten aus Holland in unsere Heimat eingeführt hätten; einzelne Bezeichnungen wie «Jass» (Bauer) oder «Näll» sollen von dieser Herkunft aus dem Land Oraniens zeugen. In unserer blinden Heimatliebe sind wir der Meinung, dass der Jass, der bei uns in jeder Beiz und Berghütte anzutreffen ist, auf unserem ureigensten Mist gewachsen ist. Dabei ist dieses angeblich urwüchsige Heimatsymbol ein über Holland transferierter Orientimport. Uns gehen die Augen auf, dass so vieles, was wir zu unserem heiligen nationalen Gut zählen, im Grunde die Frucht einer viel grösseren Völkergemeinschaft ist. Das sollte uns bei aller Heimatliebe mit der nötigen Demut und Achtung vor dem Fremden erfüllen.
Eine andere, tiefere Verankerung
Für mich liegt das, was ich eben geschrieben habe, zum Teil noch auf einer theologischen, eher kognitiven Ebene und ist noch nicht ganz zu meinem Lebens- und Bauchgefühl geworden. Aber ich merke: Weil ich mit Christus unterwegs bin, freue ich mich zwar unbändig an meiner Heimat, aber ich klammere mich nicht an ihr fest. Ich bleibe Einheimischer, aber durch den Christusglauben habe ich noch eine andere, tiefere Verankerung im Leben bekommen. Diese relativiert meine Heimatverbundenheit. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass ich durch den Transzendenzbezug meines Glaubens eine gesunde Distanz zu meiner Heimat bekommen habe. Je mehr Heimat wir selbst haben, desto achtsamer sollten wir sein, unser Herz nicht daran zu hängen. So bewahrt uns der Gottesglaube vor einer Heimatvergötzung, wo die Heimatliebe zum Gottesersatz wird.
Der Glaube bewahrt uns auch davor, unsere Heimat zu dämonisieren, gering zu achten, sie gar zu beschmutzen. Der Glaubende transzendiert sich und emigriert damit in einer gewissen Weise wie Abraham, der Vater des Glaubens. Dieser verliess seine vertraute Sippe und seine Heimat und machte sich in ein Land auf, das ihm dereinst einmal gezeigt werden würde. Sein Ausstieg aus der sozialen Hängematte war der Einstieg in ein spirituelles Abenteuer mit seinem Gott. Gott wurde ihm so zur Heimat und zum sicheren Ort. Diese Grundlinie wird bis Jesus, unserem Meister von Nazareth, der nicht wusste, wo er sein Haupt hinlegen sollte, weitergeführt.
Auch wir bleiben unterwegs. Das zeigt sehr schön ein Hausspruch auf einem prächtigen Bauernhaus, das in einem Bergtal ganz in unserer Nähe steht: Zur Herberg hier für kurze Zeit. Die Heimat ist die Ewigkeit. Es ist für mich kostbar, eine Heimat zu haben und sie zu lieben. Und gerade weil ich den Gott des Himmels entdeckt habe, bleibe ich der Erde und meiner alten Heimat treu. Dass ich dabei nur Gast bin, fühlt sich noch fremd an, ich erahne aber dabei auch zunehmende Leichtigkeit und Freiheit. Und dass mein Gastspiel, das ich gut und gerne spielen möchte, mit der grossen Heimkehr in die andere Heimat endet, auch an diesen Gedanken muss ich mich gewöhnen. Ich übe mich ein, die alte Heimat zu haben, als hätte ich sie nicht, und mit der neuen zu rechnen, als wäre sie schon da.
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