Gerade
tritt die deutsche Bischofskonferenz in Fulda zusammen. Am 25. September stellte sie
dabei eine Studie zum Missbrauch in der katholischen Kirche vor. In diesem Zuge
entschuldigte sich Kardinal Marx auch persönlich bei den Opfern. Offen ist
nicht nur in der katholischen Kirche der weitere Umgang mit diesem brisanten
Thema und vor allem den betroffenen Menschen.
Es ist schwierig, mit sexuellem Missbrauch
angemessen umzugehen. Nicht in erster Linie die Institution zu schützen,
sondern die Opfer. Ihn zu thematisieren, aber ihn nicht überall in den
Mittelpunkt zu stellen. Niemanden vorzuverurteilen, aber erst recht keine
Betroffenen mit billigen Floskeln abzuspeisen. Diese Bischofskonferenz ist eine
Chance für die katholische Kirche, sich dem Missbrauch in den eigenen Reihen
ganz neu zu stellen. Und es ist eine für die evangelischen Kirchen und
Freikirchen, davon zu lernen und daran mitzudenken, denn Missbrauch gibt es
überall.
Zeit
für Selbstkritik
Die katholische Kirche in Deutschland hatte vor vier
Jahren eine Studie zum Missbrauch in ihren Reihen in Auftrag gegeben. Ein
unabhängiges Gremium untersuchte anonymisierte Daten zum Thema. Das Ergebnis der
Untersuchung war damit nicht umfassend, aber trotzdem verstörend: Von 1946 bis
2014 hatten mindestens 1'670 Priester und kirchliche Mitarbeiter 3'677
Minderjährige missbraucht. Und dies sind nur die aktenkundig gewordenen
Vorgänge, zu denen die Kommission Zugang bekommen hatte.
Im Rahmen der
Bischofskonferenz reagierte Kardinal Reinhard Marx mit deutlicher Selbstkritik darauf,
die er sowohl auf sich selbst als auch auf seine Kirche bezog: «Allzulange ist
in der Kirche Missbrauch geleugnet, weggeschaut und vertuscht worden», erklärte
er und bat alle Opfer um Entschuldigung. «Ich tue es auch ganz persönlich… Ich
empfinde Scham für das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was
geschehen ist, und die sich nicht um die Opfer gesorgt haben. Das gilt auch für
mich! Wir haben den Opfern nicht zugehört. All das darf nicht folgenlos
bleiben. Die Betroffenen haben Anspruch auf Gerechtigkeit.»
Viele begrüssen diese Worte. Viele fordern
weitergehende Gerechtigkeit. Und viele zweifeln, ob diesem umfassenden Eingeständnis
Taten folgen werden. Aber ein offensichtlich notwendiger erster Schritt ist
geschehen.
Zeit
für gesunde Verhältnismässigkeit
Sexuellen Missbrauch verhältnismässig zu behandeln,
klingt erst einmal nach Relativieren oder Kleinreden. Das mag manchmal der Fall
sein, allerdings ist ein verhältnismässiger Umgang mit diesem Thema sehr
wichtig. Das beginnt mit einem ausgewogenen Betrachten, einem Sammeln von
Fakten und dem Vermeiden von Vorverurteilungen. Und es geht damit weiter, dass
Kindesmissbrauch als kriminelles Delikt keine Nebensache ist. Die Journalistin
Birgit Kelle wies in der «Welt» darauf hin, indem sie zwei kirchliche
Nachrichten der letzten Woche nebeneinanderstellte: Ein kirchlicher
Krankenhausträger hatte neun Jahre lang gegen einen Chefarzt geklagt, der
geschieden und wieder verheiratet war, um ihm zu kündigen. Parallel stellte
sich heraus, dass praktisch kein Täter der oben genannten Missbrauchsfälle
jemals zur Verantwortung gezogen wurde. Die meisten wurden einfach versetzt.
Nein, diese beiden Nachrichten haben erst einmal nichts miteinander zu tun. Und
ja, sie zeigen trotzdem deutlich, was verhältnismässig wäre.
Zeit
für «saubere» Strukturen
Nun gibt es Missbrauch leider nicht nur in der
katholischen Kirche. Er kommt in Freikirchen und evangelischen Gemeinden vor,
in Sportvereinen, Heimen und Einrichtungen für Behinderte. Und natürlich im
familiären Umfeld. Es wäre viel zu kurz gegriffen, Missbrauch als katholisches
Phänomen abzutun. Natürlich ist es im aktuellen Fall nicht angebracht, dass
die Kirche jetzt auf andere zeigt. Tatsächlich ist es eher dran, dass auch Kirchen
und Gemeinden ihre eigenen Strukturen unter die Lupe nehmen, um zukünftigen
Missbrauch zu erschweren. Denn manche dieser Strukturen begünstigen Missbrauch
deutlich: autoritäre Verhältnisse, grosse emotionale Nähe, starke Abhängigkeit
von Schutzbefohlenen, rigide Ablehnung von Sexualität genauso wie ein sehr
lockerer Umgang damit… Es ist schon viel gewonnen, wenn Gemeinden ihre
Herzlichkeit und Offenheit pflegen, sich aber gleichzeitig bewusst machen, dass
ihre christliche Prägung sie nicht vor Missbrauch schützt, dass manche
Pädophilen von dieser Atmosphäre sogar angezogen werden.
Zeit
für Gerechtigkeit
Das Selbstbild von Kirche und Gemeinde ist meist ein
freundliches, einladendes: «Unsere Türen sind offen. Jeder darf kommen.
Vergebung ist möglich…» Das soll auch so bleiben. Doch die Missbrauchsskandale
der vergangenen Jahre unterstreichen sehr eindrücklich: Kirche ist nicht besser
als ihre Umgebung. Und nun stehen Christen selbst vor ihren Mitmenschen und
bitten um Vergebung. Weil sie sie brauchen. Diese demütige Haltung tut Gemeinde
gut, sie darf aber nicht alles sein. Folgerichtige Schritte nach einem
Bekenntnis wie dem von Kardinal Marx müssen sein: Hilfe für die Opfer, eine
juristische Verfolgung der Täter und gelebte Transparenz im Falle von
Missbrauch. Dieser wird sich nie ganz verhindern lassen, doch jeder Täter
sollte wissen, dass er nicht gedeckt wird, um das scheinbare Ansehen der
Institution Kirche zu schützen. Es ist Zeit für Gerechtigkeit, Zeit für «Gericht
[, das] beginnt beim Haus Gottes» (1. Petrus, Kapitel 4, Vers 17).
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