Wenn Jesus Geschichten erzählt, begegnen sich darin höchst irdische
Situationen und himmlische Gedanken. Zum Beispiel in seinem Gleichnis von der
bittenden Witwe und dem ungerechten Richter. Der doppelte Titel in vielen
Bibelübersetzungen deutet schon an, dass es mindestens zwei Perspektiven darauf
gibt – und beide sind ungewöhnlich. Was hat die bildhafte Story mit uns zu tun?
Wer einmal Latein gelernt hat, erinnert sich bestimmt an den Satz:
«Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.» Der römische Politiker Cato soll
jede seiner Reden im Senat mit dieser Aufforderung beendet haben: «Übrigens bin
ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden soll.» Manche Senatoren waren
seiner Meinung, andere waren im Laufe der Zeit so von der ewigen Wiederholung
genervt, dass sie schliesslich zustimmten. Das Ergebnis: Im Dritten Punischen
Krieg (149–146 v. Chr.) zerstörten die Römer Karthago vollständig.
Jesus erzählte einmal eine Geschichte, die sich ähnlich penetrant
anhört: «Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis, um ihnen zu zeigen, dass es
nötig ist, allezeit zu beten und nicht nachlässig zu werden; und er sprach: Es
war ein Richter in einer Stadt, der Gott nicht fürchtete und sich vor keinem
Menschen scheute. Es war aber eine Witwe in jener Stadt; die kam zu ihm und
sprach: Schaffe mir Recht gegenüber meinem Widersacher! Und er wollte lange
nicht; danach aber sprach er bei sich selbst: Wenn ich auch Gott nicht fürchte
und mich vor keinem Menschen scheue, so will ich dennoch, weil mir diese Witwe
Mühe macht, ihr Recht schaffen, damit sie nicht unaufhörlich kommt und mich
plagt. Und der Herr sprach: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Gott aber,
wird er nicht seinen Auserwählten Recht schaffen, die Tag und Nacht zu ihm
rufen, wenn er auch lange zuwartet mit ihnen? Ich sage euch: Er wird ihnen
schnell Recht schaffen! Doch wenn der Sohn des Menschen kommt, wird er auch den
Glauben finden auf Erden?» (Lukas-Evangelium, Kapitel 18, Verse 1–8).
Die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Verwitwet zu sein ist bis heute keine Wunschvorstellung. Von niemandem.
In der Antike war es dagegen eine Katastrophe. Eine junge Witwe wurde oft
zurück zu ihrer Familie geschickt, wo sie dann den Rest ihres Lebens als
mithelfende Familienangehörige ohne eigene Perspektive verbrachte. Eine alte
Witwe überlebte durch Almosen. Am schlimmsten war sicherlich eine Witwe mit
minderjährigen Kindern dran: Meist konnte sie weder arbeiten noch den Besitz ihres
verstorbenen Mannes erben. Sie war nicht rechtsfähig. Aber sie musste dafür
sorgen, dass ihre Kinder und sie selbst durchkamen. Kein Wunder, dass viele der
Sozialgesetze im Alten Testament mit der Aufforderung beginnen, sich um Witwen
und Waisen zu kümmern.
Die biblische Idee ist klar. Gott selbst nennt sich einen «Vater der
Waisen, ein[en] Anwalt der Witwen» (Psalm, Kapitel 68, Vers 6).
Das Gesetz verurteilte ihre Missachtung deutlich: «Verflucht sei, wer das Recht
des Fremdlings, der Waise und der Witwe beugt!» (5. Mose, Kapitel 27, Vers 19). Doch das war Theorie… Leider
waren Witwen allzu oft als Schwächste der Gesellschaft der Willkür
preisgegeben. Deshalb machten die alttestamentlichen Propheten echte
Frömmigkeit immer wieder am Umgang mit ihnen fest. Sie forderten dazu auf: «Lernt
Gutes tun, trachtet nach dem Recht, helft dem Bedrückten, schafft der Waise
Recht, führt den Rechtsstreit für die Witwe!» (Jesaja, Kapitel 1, Vers 17).
Verraten und verkauft
Doch diese Aufforderung fand nur teilweise Gehör. Das unterstreicht das
vorliegende Gleichnis. Die Situation der Witwe wird hierbei nicht genau
beschrieben. Das muss sie auch gar nicht, denn bei jeder Zuhörerin und jedem
Zuhörer lief der oben beschriebene Film vor dem inneren Auge ab. Musste hier
eine Frau für ihre Kinder sorgen, ohne arbeiten zu dürfen? Wollte sie Geld
erhalten, das ihrem Mann zustand? Auf jeden Fall stand diese Witwe chancenlos
vor einem Richter, der sie einfach abblitzen liess. Alle Zuhörenden kannten
diese Situation genau. Sie kannten auch die Gesetze. Aber sie wussten: Die
hatten noch nie geholfen…
Ein seltsames Gottesbild?
Die zweite Hauptperson im Gleichnis ist ein Richter. Dieser fürchtete
weder Gott noch scheute er sich vor irgendeinem Menschen. Doch er war keineswegs
neutral, sondern gegen die Witwe eingestellt. Lukas bezeichnet ihn mit einem
Begriff, der für keinen Menschen ein Lob ist, für einen Richter dagegen eine
Bankrotterklärung: Er war «ungerecht» (Vers 6). Doch die Witwe liess nicht
locker. Und sie kam keineswegs demütig bittend, sondern penetrant fordernd vor
den Richter. Irgendwann entschied er sich dann, ihr Recht zu schaffen. Nicht
weil er davon überzeugt war oder von jetzt an ein besserer Mensch werden
wollte. Nein, er wollte nur endlich seine Ruhe!
Spannend, dass Jesus ausgerechnet solch einen bösen Menschen mit Gott
vergleicht. Denn genau das tut er. Streng genommen zieht er hier aber keinen
Vergleich, sondern beschreibt einen Gegensatz: Wenn schon solch ein ungerechter
Mensch eine Bitte erhört, wie viel mehr wird Gott das tun? Tatsächlich ist Gott
überhaupt nicht wie der beschriebene Richter. Er hört und beantwortet Gebet. Er
tut es gern. Er wird seinen Kindern Recht verschaffen – selbst wenn es momentan
noch nicht so aussieht. Ja, auch Gott ist ein Richter, aber im Gegensatz zu
seinem «Kollegen» im Gleichnis ist er durch und durch gerecht.
Anstrengendes Beten
Manche Gleichnisse lassen uns viel Spielraum dabei, was mit ihnen
gemeint sein könnte. Dieses nicht. Lukas leitet die kurze Geschichte mit ihrem
Zielgedanken ein, «dass sie allezeit beten» (Vers 1). Trotzdem bleibt hier für
viele ein Aber stehen. Wie soll das denn aussehen?
Die eine ist davon überzeugt, dass ihr ganzes Leben bereits eine Art
Gebet ist. Gott kennt ihr Herz und sie weiss einfach, dass er alles hört, auch
ohne dass sie es konkret ausspricht. Der andere meint, dass Gebet ein Kampf
ist. Echte Anliegen müssen durchgebetet werden, 24/7. Für ihn lässt sich Gott
durch besonders anhaltendes Gebet überzeugen – durch anderes eher nicht.
Beide Ansätze gehen allerdings an dem vorbei, was dieses Gleichnis
zeigt: Die Rechtlosigkeit und Schwäche der Witwe steht für das, was viele
Menschen erleben. Scheinbar haben sie niemanden auf ihrer Seite. Und selbst
Gott kümmert sich wohl nicht um sie. All diesen Menschen erklärt Jesus: Wenn
selbst ein ungerechter Richter wie der in der Geschichte auf das Klagen und Anklagen,
auf das Bitten und Fragen hört, wie viel mehr wird Gott es tun. Dazu gehört es
sicher, dass Christen ihre Not zu einem Gebet machen, auch wenn Gott ihr Herz
sieht. Überzeugen müssen sie ihn dagegen nicht. Denn Gott wird Recht sprechen
und seinen Willen umsetzen «wie im Himmel, so auch auf Erden».
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