Am
11. November 2021 würde Fjodor M. Dostojewskij seinen 200. Geburtstag feiern.
Vom 22. bis 24. Oktober veranstaltet das Institut für Glaube und Wissenschaft
daher eine Tagung über das Werk Dostojewskijs unter dem Titel «Allein die
Wahrheit macht den Menschen frei».
Es gibt kaum
einen anderen Schriftsteller, der die Denker des 20. Jahrhunderts so stark
beeinflusst hat wie Dostojewskij. Vor einigen Jahren sagte Solschenizyn in
einer Rede zu einer Preisverleihung, dass es im 19. Jahrhundert wohl niemanden
gegeben habe, der die totalitären Staaten dieses Jahrhunderts so deutlich vorhergesehen
hat wie Dostojewskij.
Aus Dostojewskijs Werken wissen wir, dass sein Denken
stark vom Neuen Testament (NT) geprägt war. Hier fand er Antworten auf die Fragen,
die ihn sein Leben lang begleiteten. Auch finden sich zentrale Themen des NT in
Dostojewskijs Werken. Vier solcher Themen möchte ich nennen und kommentieren.
1. Vom
Zweifel zum Glauben
Dostojewskij
selbst hat in seinem Leben Zweifel erlebt: intellektuellen Zweifel, vor allem
aber existentiellen Zweifel. Die Frage des Atheismus ist für ihn allerdings
weniger eine Frage des Zweifels als vielmehr der Gleichgültigkeit. In «Die Dämonen»
beispielsweise wird zweimal ein Wort aus der Offenbarung zitiert: «Dass du heiss
oder kalt wärest, du bist aber lau» (Offenbarung Kapitel 3, Verse 15-16). Diese
Lauheit, Gleichgültigkeit, ist das eigentliche Problem des Menschen. Zentral für
Dostojewskijs Haltung an diesem Punkt sind Nathanael und Thomas, die beiden
Zweifler aus dem Johannesevangelium. Christus tadelt ihren Zweifel in keiner
Weise. Weder Nathanael noch Thomas sind gleichgültig. Als sie die Wahrheit über
Jesus erkennen, lassen sie sich überzeugen.
2.
Gespaltenheit des Menschen
Wenn
Dostojewskij von der Heilung eines gespaltenen Menschen berichtet, dann gehen
diesem Heilungsprozess immer Reue und Busse voraus. Die wesentliche Botschaft
des Starez Sosima in «Die Brüder Karamasow» ist: Der Mensch darf niemals die Fähigkeit
zur Reue verlieren. Einem Menschen, der seine Lebenslüge nicht ablegen will, kann
nicht mehr geholfen werden. Er kann nicht mehr zu Gott, der die Menschen liebt,
umkehren.
Interessant bei der Darstellung der Personen Dostojewskijs ist, dass
die Umkehr in Reue von jedem Punkt des Lebens aus möglich ist, egal, wie
verfahren die Situation, wie gross die Schuld auch ist. Umkehr zu Gott ist von
jedem Punkt unseres Lebens möglich, egal, wie weit wir uns von ihm entfernt
haben.
3. Die
Freiheit des Menschen
Reue und
Umkehr sind eine Frage der eigenen Entscheidung. Es ist in die Freiheit eines
Menschen gestellt, ob er weiter in seiner Lebenslüge verharren will oder nicht.
Innerhalb dieser Lebensentscheidungen gibt es nach Dostojewskij eine wichtige
Frage, vor der jeder Mensch steht, nämlich ob er seine Idee vom Leben bewahren
will oder aber ob er sich auf die Suche nach dem echten Leben machen will.
Vielleicht hat ein Mensch ein gedankliches System entwickelt, wie er die Welt
sehen, in ihr leben und sie möglicherweise auch verändern will. Verharrt er
ohne Seitenblick stur in diesem System – dann wird er dem wahren Leben nicht
begegnen. Eine weitere Lebensentscheidung, die jeder Mensch zu treffen hat: ob
er als Mensch Gott werden will – oder ob er akzeptieren will, dass Gott Mensch
geworden ist – für ihn.
4. Wenn es
keinen Gott gibt, ist alles erlaubt
Für
Dostojewskij ist der Mensch Gottes Schöpfung, nach seinem Bilde geschaffen. Und
deshalb darf man einen anderen Menschen nicht als Mittel einem noch so guten
Zweck opfern. In jedem Menschen, und mag er noch so korrumpiert, noch so tief
gesunken sein, spiegelt sich Gottes Bild wider. Von daher hat der Mensch seine Würde,
trotz seiner Schuld. Die Auferstehung Christi ist der Eckstein des Glaubens bei
Dostojewskij, Christus ist also nicht nur ein Vorbild im ethischen Handeln, er
ist Sieger über den Tod. Das Evangelium öffnet sich Dostojewskij als ein Buch über
die Auferstehung. Alle Tragik und Absurdität des Lebens sieht er in der
Auferstehung überwunden.
Die
Auferstehung hat stattgefunden in der Geschichte, und sie hat Heilsauswirkung
bis in die Gegenwart hinein. Was könnte man – innerhalb der Grenzen dieses
Weltgeschehens – Iwan Karamasow antworten, der angesichts des Todes kleiner
Kinder seine Eintrittskarte in diese Welt zurückgeben will? In dieser Welt wird
das Leid nicht aufgehoben, in ihr gibt es keine Antwort – die einzig mögliche
Antwort ist die Tatsache der Auferstehung Jesu. Diese Welt mit allem Leid ist
nicht alles. Das Leid ist eine Folge des Abfalls von Gott, und die Auferstehung
Jesu ist ein neues Kapitel der Geschichte Gottes mit dem Menschen. Das Leben
beginnt für Raskolnikow mit der Lektüre des Neuen Testaments, denn das
Evangelium ist das Buch, in dem wir Christus begegnen und in ihm das Leben
finden. Davon war Dostojewskij überzeugt.
Auszug
aus «Dostojewskij – Prophet des 20. Jahrhunderts» von Dr. Jürgen Spiess,
Historiker, Gründer des Instituts für Glaube und Wissenschaft, Mitglied der
Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft. Den vollständigen Text finden Sie hier.
Alle weiteren Infos zur Jahrestagung des Instituts für Glaube und Wissenschaft finden Sie hier.
Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin der SMD.
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