China steht immer mehr im Fokus der internationalen Politik. Was bedeutet das für die Christen vor Ort? China-Expertin Isabel Friemann zeigt sich im Interview besorgt.
Mit welchen Gefühlen blicken Sie gerade nach China?
Isabel Friemann: Im Blick auf die Gesellschaft ist die
Situation wenig erfreulich und beunruhigend. Der Staatspräsident Xi
Jinping bemüht sich gerade, die Macht in seiner Person zu bündeln. Die
Seidenstrassen-Initiative zeigt, dass China nach internationalem Einfluss
strebt. Das Land möchte seine Präsenz in der Welt stärken und das
Narrativ bestimmen. Das bereitet mir Sorge.
XiJinping hat sich gerade zum dritten Mal zum Generalsekretär wählen lassen. Sicher ein Zeichen, um seine Macht zu demonstrieren?
Ja. Er hat als absoluter Alleinherrscher mehr Medienpräsenz als Mao
Zedong früher. Sein Gedankengut bestimmt die Partei. In manchen
Provinzen soll es wieder kleine rote Büchlein geben, die man auf dem
Herzen tragen kann und die seine Zitate enthalten. Der Personenkult ist
extrem. Der Herrscher ist humorlos. Witze über ihn werden nicht
toleriert, sondern hart bestraft.
Welche Konsequenzen hat das Machtgebaren für die Einhaltung der Menschenrechte?
Es wird immer behauptet, Asien und der Westen hätten andere
Menschenrechte. Die chinesische Definition lautet «Wohlstand und genug
zu essen für alle». Jinping vereinnahmt für sich, dass er 800 Millionen
Chinesen aus der Armut befreit hat. Diesen Fortschritt möchte er jetzt
in die Welt exportieren. Alle sollen an dem Wachstum teilhaben. Ich
teile diese Ansicht nicht. Individuelle Rechte sind richtig und wichtig.
Jinping definiert sie um und rechtfertigt damit sein hartes
Durchgreifen.
Was wirft China dem Westen vor?
China verweist auf die vielen politischen Probleme dort: etwa die
Stürmung des Kapitols in den USA oder des Reichstages in Berlin. China
bemängelt, dass die politische Entscheidungsfindung sehr lange dauert.
Die Menschenrechtspolitik des Westens wird extrem negativ dargestellt.
Wir können lange darüber diskutieren. Aber ich glaube, dass unser
Verständnis der Menschenrechte richtig ist.
Die chinesische Verfassung garantiert Glaubensfreiheit. Wie geht es den Christen vor Ort?
Das ist richtig. Es herrscht Glaubensfreiheit, aber keine
Religionsfreiheit. Im Februar 2018 wurde ein Gesetz verabschiedet, das
sehr viel schärfere Grenzen im religiösen Bereich setzt. Bis dahin gab
es relativ viele Freiheiten oder zumindest einen Graubereich, den die
Religionen für sich genutzt haben. Das ist jetzt nicht mehr so leicht
möglich.
Wie sind die Christen in China organisiert? Es gibt eine offizielle Vertretung chinesischer Christen: den
Chinesischen Christenrat. Als die
Volksrepublik China gegründet wurde, mussten erst einmal alle Ausländer
und Missionare das Land verlassen. Danach entwickelte sich die
«Drei-Selbst-Bewegung». Sie forderte die verbliebenen Christen auf, sich
am Aufbau des neuen Landes zu beteiligen. Die Menschen sollten ihren
Glauben als nationale Christen leben, finanziell selbstständig und
organisatorisch unabhängig vom Ausland sein und mit ihren theologischen
Gedanken ausgestalten. Nach der Kulturrevolution fand man das zu
politisch. Als kirchliche Vertretung wurde der Christen-Rat gegründet.
De facto bilden beide Bewegungen eine Einheit, die für 38 Millionen
offiziell registrierter chinesischer Christen steht.
Was bedeutet das in der Praxis?
Alle grossen Städte haben Kirchen. Shanghai verfügt etwa über 100
evangelische Kirchen. In manchen ländlichen Regionen ist das ganz
anders. Christen sind nach wie vor eine kleine Minderheit, die unter den
Gesetzen der Politik leiden. Viele ziehen sich deswegen ins Private
zurück oder distanzieren sich. Von aussen ist schwer einzuschätzen, was
wirklich passiert. Während der Kulturrevolution wurden Christen verfolgt,
aber ihre Zahl ist gewachsen. Das hat sogar die Christen selbst
überrascht. Vielleicht gibt es jetzt einen ähnlichen Effekt.
Mit welchen Konsequenzen müssen Christen rechnen, die ihren Glauben leben?
Solange es das öffentliche Leben nicht beeinträchtigt, sind die
Konsequenzen überschaubar. Im öffentlichen Raum gibt es aber keine
religiösen Aktivitäten. In Buchläden sucht man vergeblich nach Bibeln,
buddhistischen Schriften oder dem Koran. Diese gibt es nur auf dem
Gelände religiöser Stätten. Gottesdienste werden öffentlich nicht
beworben und es wird auch nicht für sie geläutet. Wer sich für
Veranstaltungen interessiert, muss sich selbst informieren. Es ist
verboten, Minderjährige religiös zu beeinflussen. Deswegen gibt es auch
keine Kindergottesdienste und Kindertaufen. Das liegt in der
Erziehungshoheit des Staates. Das ist aber alles nicht neu. Es wird
jetzt nur strenger kontrolliert.
Seitdem der letzte Missionar China verlassen hat, soll es keine Mission mehr geben. Stimmt das?
Es ist unerwünscht, passiert aber trotzdem. Es gibt Menschen, die
China gerne missionieren möchten. Vor allem koreanische Missionare
fallen kaum auf, weil es auch eine nationale koreanische Minderheit
gibt. In Peking gibt es einen Stadtteil mit sehr vielen koreanischen
Gemeinden, in die auch sehr viele Chinesen gehen. Missionare kommen
häufig als Sprachlehrer ins Land. Das kann natürlich keine Regierung zu
100 Prozent kontrollieren. Ob das etwas nutzt, ist eine ganz andere
Frage. Die Kulturrevolution hat aus meiner Sicht gezeigt, dass Chinesen
hier keine externe Hilfe brauchen.
Eine wichtige Rolle in China spielen die Hauskirchen.
Ja, es gibt im Untergrund Gemeinden und Kirchen, die erst seit 2018
wirklich illegal sind. Sie existieren aber natürlich weiter, wenn sie
nicht gewaltsam geschlossen wurden. Manche von ihnen äussern sich sehr
politisch oder lassen sich von politischen Autoritäten nichts sagen. Die
meisten sind unpolitisch, beten im privaten Rahmen füreinander und
helfen sich. Wer sich nicht zu stark organisiert, wird in Ruhe gelassen.
Wo die Regierung politisches Potenzial sieht, greift sie hart durch und
schaut genau hin.
Um weitere Unruhen zu vermeiden?
China vertritt die Ansicht, dass alle Religionen gute Anteile haben,
die man nutzen kann. Christen haben stabile Familienverhältnisse,
kümmern sich gut um ihre Kinder und helfen sich gegenseitig. Diese
Nächstenliebe sehen die Politiker als wertvollen Beitrag für die
Gesellschaft. Kritisiert werden illegale Aktivitäten, systemkritische
Aktionen und zu starke Kontakte mit dem Ausland. Viele Prediger würden
sich auch ohne Ausbildung mit ihren religiösen Fantasien als
Heilsbringer gerieren.
Isabel Friemann (Bild: Facebook)
Haben Sie eigene Erfahrungen mit Hauskirchen gemacht?
Ich kenne etliche Leute, die von der offiziellen Kirche in eine
Hauskirche gewechselt sind. Von ihnen ist niemand verhaftet oder
bedrängt worden, weil sie nicht öffentlich provoziert haben. Grosse
Hauskirchen werden dagegen immer wieder geschlossen oder ihr Material
konfisziert. Wenn das mehrfach vorkommt, werden die Anhänger in
Gewahrsam genommen oder verhaftet. In den offiziellen Kirchen wird mehr
kontrolliert als früher. Wer in die Gottesdienste geht, muss sich über
sein Handy registrieren. Die Eingänge werden mit Kameras überwacht. Das
wollen viele Leute nicht. Die Zahl der Gottesdienstbesucher ist rapide
gesunken und mit ihnen die Einnahmen. Diese Kirchen finanzieren sich
ausschliesslich durch Kollekten.
Stichwort Pressefreiheit: Wie ist es um die Medienlandschaft in China bestellt?
Die Medien werden sehr stark kontrolliert. Im Fernsehen wird nur noch
gesendet, was der Partei und dem Ansehen des Präsidenten dient.
Pressefreiheit gibt es nicht. Auch die Freiräume von Bloggern im
Internet sind massiv eingeschränkt. Das ist frustrierend. Seit September
gibt es ein Gesetz für Gemeinden und religiöse Einrichtungen. Sie
dürfen nur noch mit einer Lizenz, die die Religionsbehörde ausstellt,
Dinge im Internet veröffentlichen. Gemeinden dürfen ihre
Online-Gottesdienste nur noch eigenen Mitgliedern zur Verfügung stellen.
So wird ganz viel ausgebremst.
Welche Rolle wird China in Zukunft in der Weltpolitik einnehmen?
China denkt langfristig und strategisch. Das Land hat unglaubliche
Geldreserven. Seine Rolle wird wachsen, aber es wird auch an seine
Grenzen stossen. Eine wichtige Rolle spielt die Bevölkerungsentwicklung.
Nach 30 Jahren «Ein-Kind-Politik» gehen die starken Jahrgänge bald in
Rente und immer weniger Menschen arbeiten. In der Politik wird aber mehr
darauf geachtet, dass die Menschen «politisch stramm stehen», als auf
den wirtschaftlichen Erfolg.
Könnten Sie Beispiele nennen?
Die gesamte Corona-Politik hat ja zum Einbruch der wirtschaftlichen
Beziehungen geführt, auch, was die Präsenz von ausländischen Firmen in
China betrifft. Es gibt deutliche Anzeichen, dass China sich
wirtschaftlich nicht so weiterentwickelt wie bisher. Die
Arbeitslosenzahlen steigen gerade bei jungen Menschen. Ein ungelöstes
Problem ist die Spaltung zwischen Land- und Stadtbevölkerung. China hat
sich nicht bemüht, die Wanderarbeiter in die Städte zu integrieren. Die
Wanderarbeiter und ihre besser ausgebildeten Nachkommen fangen an, sich
dagegen zu wehren. Dadurch entsteht ein Zwei-Klassen-System, und es gärt
enorm in der Gesellschaft. Das hat die Staatsführung zu wenig im Blick.
Welche Rolle kann und soll Deutschland spielen?
Deutschland ist im Westen vielleicht der wichtigste Partner. Die USA
sind das chinesische Feindbild. Ich denke, dass Deutschland diesen
Einfluss stärker nutzen und selbstbewusster eigene Vorstellungen
umsetzen kann. Die Chinesen schätzen Deutschland als verlässlichen
Partner. Das hat mir auch die chinesische Delegation bei der
Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen bestätigt.
Das war die Binnensicht der chinesischen Delegation?
Ja, aber ich weiss es auch aus meiner eigenen Zeit in Peking.
Natürlich gibt es inzwischen viele Menschen, die Richtung Pazifik,
Afrika und Russland blicken. Aber von den westlichen Ländern ist
Deutschland der zuverlässigste Partner und wird auch politisch positiver
gesehen als die USA.
Was müssen wir also im Umgang mit China für die Zukunft beachten?
Es wird ganz wichtig sein, wie wir mit Medien umgehen und
Informationen konsumieren. In vielen Ecken der Erde kommunizieren
Menschen ganz viele Informationen ungefiltert über die sozialen
Netzwerke. Es ist unsere Aufgabe, demokratische Werte zu verteidigen,
damit Menschen nachdenken oder besser Informationen aufnehmen. Die
Kontrolle und die Einflussnahme über die Medien ist extrem gefährlich,
weil Menschen kontrolliert und manipuliert werden können.
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