Jesus-Film in Venedig gezeigt

Wieviel vom alten steckt im «Neuen Evangelium»?

Der experimentelle Jesus-Film «Das Neue Evangelium» feierte bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig am Sonntag Premiere. Der Schweizer Regisseur Milo Rau inszenierte ein Passionsspiel an unerwarteten Schauplätzen. Im Mittelpunkt stehen die ausgebeuteten Flüchtlinge aus Afrika, die für Hungerlöhne in Italien auf Farmen arbeiten.

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Milo Rau (Bild: Screenshot Instagram)
Ein typischer Jesus-Film ist «Das Neue Evangelium» nicht. Das will er auch gar nicht sein. Dennoch spürt man dem Schweizer Regisseur Milo Rau die Ehrfurcht vor den Vorgängerfilmen an.

Matera dient wiederum als Drehort

Die stilgebenden Passionsfilme «Das 1. Evangelium – Matthäus» (1964) von Paolo Pasolini und Mel Gibsons «Die Passion Christi» (2004) wurden beide am selben Ort gedreht. Die süditalienische Ortschaft Matera sieht dem antiken Jerusalem zum Verwechseln ähnlich. Nur in der Thematik sind die beiden bekannten Filme und dieses neue Projekt sehr unterschiedlich.

Im Zentrum des Films steht die Frage, was Jesus tun und sagen würde, wenn er heute leben würde. Wahrscheinlich würde er, Kulturhauptstadt hin oder her, die bedrückenden Lebensbedingungen anprangern, unter denen afrikanische Flüchtlinge in Süditalien (und nicht nur dort) leiden. Jesus wird bei Rau dementsprechend dargestellt von einem ehemaligen Landarbeiter aus Kamerun, der sich seit 2011 selbst gegen die ungerechte Behandlung und Bezahlung von Flüchtlingen engagiert. Yvan Sagnets Botschaft: Die Farm-Arbeiter sind Menschen und geniessen entsprechend wie jeder andere Mensch das Recht auf Würde.

Film-Doku und Passionsspiel: Der stetige Wechsel fordert heraus

Bei dem «Manifest der Solidarität der Ärmsten» wie die Produzenten das Projekt selbst nennen, wirkten Flüchtlinge, Aktivisten und Bürger Materas mit. Bei vielen Szenen waren Zuschauer erwünscht, das Setting ist das heutige Italien, allerdings tragen die Darsteller weitestgehend historisch anmutende Kostüme. Weitere Rollen übernahmen Marcello Fonte, Enrique Irazoqui (Darsteller des Jesus in Pier Paolo Pasolinis Jesusfilm), Maia Morgenstern (Darstellerin der Maria in Mel Gibsons «Die Passion Christi») und der Liedermacher Vinicio Capossela.

In der deutsch-schweizerisch-italienischen Koproduktion wechseln sich Passionsspiel mit getragener klassischer Musik mit Film-Dokumentation ab. Immer wieder sind die Crew und die Schauspieler zu sehen, wie sie sich eingrooven, das Set besuchen und Übungen machen. Auch beim Casting für das Projekt ist der Zuschauer dabei.

Ausgerechnet in einer Kirche sprechen normale Bürger vor, was immer wieder ungewollt komisch wirkt, weil hier Menschen, die nicht als Schauspieler ausgebildet wurden, aber eine Rolle ergattern wollen, ihre Komfortzone verlassen. Dennoch enthält dieses Casting eines der wohl energiegeladensten Szenen des Films: Ein junger Italiener, der als ein Legionär vorspricht, zeigt, was an rassistischem Hass gegenüber schwarzen Geflüchteten in ihm steckt, und löst ziemliche Angst aus, weil er darin nahezu perfekt ist und gar nicht mehr aufhören will, den imaginären schwarzen Jesus auf dem Stuhl auszupeitschen und anzuspucken. Und das alles vor dem Altar einer (echten) Kirche. Das Casting allein wird hier zu einem entscheidenden Puzzleteil des Films. Offenbar waren es genau derartige Szenen, die sich Rau bei seinem Mischmasch aus Realität und Bibelfilm gewünscht hat. Was ist da eigentlich schon Schauspiel, und was noch Realität?

Einen Retter wie Jesus würden die Geknechteten sofort aufnehmen

Der Kameruner Aktivist Yvan Sagnet schreitet in moderner Kleidung durch die Baracken-Siedlung und richtet eine Rede an die Flüchtlinge; wenig später ist er wieder als Jesus-Darsteller am Set, spricht Worte Jesu nach; und schon unterbricht er sich selbst und möchte die Szene erneut sprechen. Die Klappe fällt erneut. Dieser permanente Wechsel zwischen Jesus-Film und Film-Dokumentation fordert den Zuschauer heraus, er muss die Transferleistung schon selbst erbringen und sich Jesus an Stelle von Sagnet denken. Dabei ist es nicht immer leicht zu unterscheiden, auf welcher Abstraktionsebene sich der Zuschauer gerade befindet. Der Sprecher liest Texte aus den Evangelien vor, egal ob wir gerade in der Realität sind oder im Film; Sagnet selbst spielt mit dieser Verwechslung, so ist etwa auf seinen Plakaten sein Konterfeit als Jesus zu sehen, mit Dornenkrone auf dem Haupt.

Das Besondere an «Das Neue Evangelium» ist zugleich das Schwierige: Jesus darzustellen als den, der er sich ausgab zu sein, ist das eine; aber Jesus mit einer anderen Person zu überdecken, hat immer einen Geschmack von Grössenwahn. Allerdings verwebt Rau diese Überlappungen auch geschickt, etwa wenn die römischen Legionäre, die Jesus aus dem Garten Gethsemane abholen, mit einem weissen Mittelklassewagen vorfahren. Klar dürfte sein: Einen Retter wie Jesus würden die geknechteten Arbeiter auf den Tomatenfarmen sofort bei sich aufnehmen, und sicher würde sich Jesus ihrer wohl auch annehmen.

Jesus als politischer Aktivist

Milo Rau stellt hier weniger den neutestamentlichen Sohn Gottes dar, der mit Vollmacht auf die Erde kam, um das Gericht, aber auch die Erlösung anzukündigen, sondern vielmehr einen Politiker, der vielleicht eine Partei gründen sollte, um die Gesetze zugunsten der Flüchtlinge zu verändern. Das Evangelium des Neuen Testaments ist mit Sicherheit hochpolitisch, aber es führt am Ende ja doch über das Politische hinaus. Die Botschaft Jesu von Gottes Reich, das eben nicht auf der Erde ist, sondern bei Gott – und in den Herzen der Menschen – bleibt in diesem Film im Dunkeln. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, ob ihm das «neue» Evangelium mehr gefällt als das «alte», und welches davon revolutionärer ist. Jesus heilte Kranke, aber eben nicht alle Kranken dieser Erde. Und er hat auch nicht die Armen dieser Erde reich gemacht oder allen ein Dach über den Kopf besorgt. Seine Mission war umfassender, die Botschaft, die Jesus brachte, war deswegen revolutionär, weil sie das Innere des Menschen betrifft.

Das letzte Drittel, das ausgiebig filmisch-inszeniert ist, zeigt die Verurteilung und Auspeitschung Jesu sowie die Kreuzigung und unterscheidet sich hier kaum mehr von Pasolini und Co. Allerdings darf hier Jesus (Sagnet) lebend vom Kreuz hinuntersteigen und aufatmen. Der Tod des politischen Aktivisten wäre ohnehin sinnlos gewesen. Die Auferstehung gibt es beim «Neuen Evangelium» nicht.

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Datum: 07.09.2020
Autor: Jörn Schumacher
Quelle: PRO Medienmagazin | www.pro-medienmagazin.de

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