Theologieprofessor Ralph Kunz hat mit Gleichgesinnten wie CVP-Präsident Gerhard Pfister den Thinktank «Kirche/Politik» gegründet. Von der Kirche wünscht er sich differenziertere Stellungnahmen in politischen Debatten. Fritz Imhof hat mit Ralph Kunz gesprochen.
Ralph Kunz: «Es gibt keine definierte christliche Politik»
Ralph Kunz, Sie haben den Thinktank Kirche/Politik mitbegründet. Was hat bei Ihnen den Entschluss ausgelöst, sich hier zu engagieren? Ralph Kunz: Die Initiative dazu ist von der Theologin Béatrice Acklin ausgegangen. Sie hat an der Schnittstelle Erwachsenenbildung, Akademie und Öffentlichkeit festgestellt, dass es unter Politikern eine gewisse Unruhe wegen kirchlicher Äusserungen gibt. Das war für sie der Anlass, einmal die verschiedenen Parteien zusammenzurufen. Es ging dabei zuerst einmal darum, eine «Kropfleerete» zu machen. Dabei wurde festgestellt, dass es ein Bedürfnis gibt, diese Frage vertieft zu debattieren.
Haben Sie sich zuvor schon mit der Frage auseinandergesetzt?
Ich habe erfahren, dass die Kanzel ein Ort ist, wo man auch politische Botschaften verkündigen kann. Damit habe ich mich ausführlicher beschäftigt und dazu auch einen Aufsatz geschrieben. Auch bei Vorträgen und in Radiopredigten wurde ich mit dem Thema konfrontiert. Ich wollte mir selbst klar werden, wie ich mich als Theologieprofessor und Prediger äussere.
Im Alltag zeigt sich, dass Christen jede mögliche politische Prägung aufweisen können. Kann die Theologie wirklich politische Entscheidungen beeinflussen?
Man kann viele politische Positionen christlich begründen. Es gibt keine definierte christliche Politik. Es gibt aber mehr oder weniger stimmige Argumentationen, die sich auf die Bibel und das Evangelium berufen. Hier gibt es einen Diskussionsbedarf. Ich würde nie behaupten, dass christliche Politik entweder immer sozialistisch oder konservativ, bürgerlich oder revolutionär sein muss. Entscheidend ist, dass wir uns über den Glauben Rechenschaft geben und vom Glauben her argumentieren und triftige Gründe für politisches Handeln erarbeiten.
Wenn ich an Vorentscheidungen wie Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik denke, sind die Resultate doch oft schon vorgegeben.
Die Gegenüberstellung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik vereinfacht das Problem auf unzulässige Weise. Es gibt zwar einen Spannungsbereich zwischen Idealvorstellungen vom guten Leben und einer Verantwortungsethik, die über die Folgen des Handelns nachdenkt. Es liegt auf der Hand, dass Idealismus und Realismus einander bedingen. Es geht hier um eine gute Dialektik.
Kann somit eine kirchliche Äusserung einmal eher von Gesinnungs- und ein anderes Mal eher von Verantwortungsethik geprägt sein?
Ich antworte hier gerne mit dem Reformator Zwingli, der in einer Predigt forderte, die menschliche Gerechtigkeit ins Verhältnis zur göttlichen Gerechtigkeit zu setzen. Damit ist eine menschliche Gerechtigkeit – also Verantwortungsethik – als Gegenüber und nicht als Gegensatz zur göttlichen Gerechtigkeit – also Gesinnungsethik formuliert. Bei Zwingli kommt das ins Spiel, wenn er über den Umgang mit Zins, den Armen oder dem Söldnerwesen spricht. Daraus leitet er gewisse Forderungen ab. Es geht ihm dabei nicht nur um Moral, sondern auch um Ethik, also die Reflexion von Moral. Am Beispiel von Zwingli leuchtet mir vor allem ein, dass das Gottesreich so etwas wie eine Zielvorgabe ist, die menschlich zwar nicht zu erreichen ist –, aber immer präsent sein muss. Zwingli sucht einen Weg zwischen den extremen Positionen der Täufer und dem korrupten kirchlichen System seiner Zeit. In diesem Spannungsbereich wird das politische Handeln kreativ. Dabei geht es immer um die Übereinstimmung mit dem Evangelium, die Bereitschaft zur Umkehr und Kurskorrektur.
Der Glaube müsste eigentlich alle Lebensbereiche umfassen und beeinflussen. Gibt es politische Fragen, die überhaupt keine Relevanz für den Glauben haben?
Eine gute Frage. Ich denke auch, dass sich der Glaube als Lebensform nicht auf bestimmte Bereiche reduzieren lässt. Zum Beispiel auf Spiritualität oder Religiosität. Oder auf geistliche Praktiken wie Singen und Beten. Wenn der Glaube eine Lebensform ist, dann ist alles in unserem Leben, auch der Umgang mit Sexualität, mit Besitz, mit Benachteiligten etc. darin enthalten. Nun kommt ein Aber: Wir leben ja nicht mehr in der Antike, im Spätmittelalter oder im 19. Jahrhundert. Sondern wir haben technische und kulturelle Entwicklungen durchgemacht, die uns zwingen, differenziert und reflektiert mit Phänomenen umzugehen wie der Digitalisierung oder der Entwicklung der Medizin, wo wir vor neue Fragen gestellt sind, zu denen es keine schlüssigen Antworten aus der Bibel gibt. Hier ist eine Übersetzungsweisheit gefragt, die auch Sachwissen voraussetzt. Dasselbe gilt für gewisse kulturelle Entwicklungen wie etwa andere Verständnisse von Demokratie und Bürgerrechten, wo wir im Dialog mit den Geisteswissenschaften, der Philosophie, der Soziologie oder der Psychologie lernen, unsere Gegenwart besser zu verstehen.
Ist es Zufall, dass meistens bürgerliche Politiker sich über Positionsbezüge von Kirchen oder kirchlichen Angestellten beklagen? Tickt die Kirche links?
Jein. Es ist eine komplexe Frage, weil wir in einem bestimmten Klima leben und weil die Kirche auch einen Zeitgeist widerspiegelt. In unserem Kulturkreis sind tatsächlich die Stimmen engagierter Kirchenleute tendenziell eher «links». In anderen Weltgegenden ist es ganz anders. Dort sind kirchliche Stellungnahmen gegenüber der Politik oft konservativ. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Aussage des Papstes, dass Abtreibung Auftragsmord sei, die hierzulande helles Entsetzen hervorgerufen hat. Die Kirche tickt nicht einfach links.
Welche politische Fragestellung oder anstehende Entscheidung möchten Sie selbst vertieft theologisch-ethisch beackern?
Die grossen Fragen müssen diejenigen sein, die zukünftige Generationen betreffen. Dazu gehören die Umweltpolitik, der Umgang mit den Ressourcen, mit Luft, Wasser und Erde sowie der Energie; mit Verschmutzung und Klimaerwärmung. Dazu haben Christen, die an einen Schöpfer glauben, etwas zu sagen. Sie sehen den Menschen sowohl in seiner Bedürftigkeit wie auch in seiner Gier. Sie wissen, welche Konsequenzen die Übernutzung unserer Ressourcen haben kann. Ein weiteres Thema ist die Migration, ihre Folgen und Ursachen, also auch das Ungleichgewicht bei den Ressourcen, und daraus folgend der Druck, der Menschen in der Armut zur Migration zwingt und Menschen im Wohlstand Angst macht, sie könnten ärmer werden. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass die Verteilung der Güter global gerechter erfolgt.
Ein drittes Thema ist die Frage der Wertebildung, der Normen und der Moral. Wie vermitteln wir unsere Werte und wie sorgen wir dafür, dass auch künftige Generationen die Voraussetzungen für Demokratie – Fairness, Liebe, Treue und Glaube – kennen, sodass eine Gemeinschaft entsteht und nicht nur ein aufgeblähter Verteilungsapparat. Letztlich geht es nicht nur um «das Christliche», sondern um «uns Christen» – das Lebenszeugnis, das die Polis verändert und die Wärme, das Licht und die Hoffnung des Evangeliums in die Gesellschaft hineinträgt.
Zur Person:
Prof. Dr. Ralph Kunz (55) ist Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Homiletik, Liturgik und Poimenik an der Universität Zürich. Er doktorierte über die Theorie des Gemeindeaufbaus und habilitierte über den evangelischreformierten Gottesdienst.