«Die Geburtsstätte des Christentums wird heute zu seinem Friedhof»
Der Fotograf Andy Spyra ist seit sechs Jahren regelmässig in jener Region des Nahen Ostens unterwegs, in dem die ältesten Christengemeinden entstanden. Er dokumentiert in einem Langzeitprojekt das erschütternde Verschwinden der Christen aus der Region. Seine Arbeit hat ihn selbst über sein eigenes, ursprünglich kritisches Verhältnis zur Religion neu nachdenken lassen.
Andy Spyra
Ursprünglich wollte Andy Spyra Politik und Soziologie studieren. Der heute 34-Jährige musste aber länger auf seinen Studienplatz warten und probierte in der Zwischenzeit ein Praktikum bei der Lokalzeitung in Hagen aus. Dort gefiel es ihm so gut, dass er zwei Jahre blieb. Mit seiner ersten, schlichten Digitalkamera machte er Fotos, die so viel Anerkennung erfuhren, dass er beschloss, Fotografie in Hannover zu studieren. Eine Reise nach Kaschmir, wo er mitten in den Konflikt zwischen Indien, Pakistan und China geriet, machte aus ihm einen Krisen- und Kriegsfotografen.
Von Bosnien in den Nahen Osten
Er war zunächst im Konflikt in Bosnien als Fotograf tätig, wo er erstmals auf die wichtige Bedeutung der Religionen in den Konflikten stiess. Seine Forschungen führten ihn schliesslich in den Nahen Osten, der ihn von da an nicht mehr losliess. Heute arbeitet er für viele renommierte Zeitschriften wie GEO, Spiegel und Stern.
Spyra fotografiert ausschliesslich in Schwarz-Weiss. «Farbe macht für mich nur dann Sinn, wenn sie dem Bild etwas hinzuzufügen hat. Und das ist oft nicht der Fall. Der Nahe Osten ist auch einfach kein sehr farbenprächtiger Lebensraum.»
Seit 2011 arbeitet er an einem Langzeitprojekt im Nahen Osten. Denn für ihn ist das, was mit den christlichen Minderheiten dort passiert, ein äusserst spannendes Thema. «Die Geburtsstätte des Christentums wird heute zu seinem Friedhof», sagt Spyra. Dass die Christen dort ganz verschwinden, ist für ihn nur noch eine Frage der Zeit.
Das «Jerusalem der Christen» völlig zerstört
Wenn Spyra erst einmal anfängt, von Christen im Irak zu sprechen, sprudelt es nur so aus ihm heraus. Er spricht über die christliche Stadt Karakosch südöstlich von Mossul in der irakischen Ninive-Ebene. Spyra bezeichnet Karakosch als den «Leuchtturm des Christentums im Nahen Osten» und als «das Jerusalem der Christen». Hier treffen sich alle Konfessionen, Orthodoxe, Katholiken, sogar Protestanten. «Auch mit den Muslimen ging es all die Jahre über friedlich zu», erklärt Spyra.
«Im Jahr 2014 kam der IS, und die Leute sind alle geflohen. Erst nach Erbil, in die kurdische Haupstadt, aber nach und nach haben sie keine Perspektive mehr für sich dort gesehen und sind in alle Welt verschwunden.» Er sagt weiter: «Jetzt leben immer noch ein paar Tausende in Flüchtlingslagern in Erbil. Karakosch ist mittlerweile zurückerobert, aber dort ist alles kaputt. Und viele Menschen trauen sich nicht mehr dorthin zurück. Sie denken sich: 'Wer soll uns denn beim nächsten Mal beschützen?' Der IS ist zwar jetzt weg, aber die Ideologie bleibt ja.»
Werk beeinflusste Haltung zu Religion
Spyra ist fasziniert von dem Gedanken, dass in dieser Region die ersten Christen im ersten Jahrhundert gelebt haben. «Damals gab es noch keine wirklichen Klöster, sondern eher Höhlen, die in den Berg hineingehauen wurden, und in denen sich die ersten Christen heimlich getroffen haben.» Und jetzt verschwinden die Christen aus diesem Gebiet nach und nach. Diesen Prozess hält Spyra fest. «Gerade an Karakosch kann man wunderbar die Geschichte des Christentums im Nahen Osten nachzeichnen.»
Sein eigenes Bild von Religion hat sich durch seine zahlreichen Besuche im Nahen Osten grundlegend verändert. Früher habe er die «typisch ablehnende Haltung eines Jugendlichen» gegenüber Religion gehabt. «Ansonsten war sie nie ein Thema für mich.» Doch durch die intensive Arbeit sowohl mit Christen als auch mit Muslimen über die Jahre hinweg habe er ein differenzierteres Bild bekommen. Er sehe aber auch die Möglichkeit der Manipulation durch Religionen deutlicher, sagt Spyra. Den Konservatismus in Religionen, der «die Menschen einengt und den Fortschritt behindert», lehnt er immer noch ab, auch wenn sich «Menschen hinter ihrer Religion verstecken», wie er sagt.
Imam und Priester schützen sich gegenseitig
Sein Lieblingsbeispiel dafür, dass Menschen unterschiedlichen Glaubens prima miteinander zusammenleben können, stammt aus Ägypten: «In einem kleinen Dorf beschützen ein Salafisten-Imam und ein orthodoxer Priester gegenseitig mit ein paar Helfern ihre Gemeinden. Die beiden kennen sich aus Kindheitstagen.» Spyra ist begeistert: «So etwas kann funktionieren.» Denn so unterschiedlich beide Glaubensrichtungen seien, teilten sie viele Werte.