Buchtipp aus Aktualitätsgründen: «Wo die Welt schreit»
Seit zwei Jahren engagiert sich Andrea Wegener mit einer Partnerorganisation von Campus für Christus auf der Insel Lesbos. Die jüngste Eskalation durch den Brand im Flüchtlingslager Moria kam für sie nicht unerwartet. Über ihre Arbeit unter extremsten Beedingungen hat sie ein Buch geschrieben, auf das wir aufgrund der aktuellen Lage gerne hinweisen.
Andrea Wegener bei der Hilfsgüterverteilung
Über die jüngsten Ereignisse im Flüchtlingcamp Moria berichtete Andrea Wegener letzte Woche bereits in einem pro-Artikel sowie in ihrem Blog «Andreas Notizen». Dieser Buchtipp hier stammt aus dem Sommer 2019, ist aber gerade jetzt sehr aktuell.
Menschenunwürdige Zustände
«Wo die Welt schreit. Wunder und Wagnisse im Camp der Vergessenen am Rande Europas.»
«Need Kotex», flüstert Masoumeh,
deutet auf sich und rückt so nahe an mein Ohr, wie es die kleine Theke unserer
Windelausgabe erlaubt. «You want
diapers? Or pads?», frage ich zurück. Braucht sie Windeln oder Damenbinden? Die
junge Frau schaut mich unsicher an. «Kooo-tex», sagt sie langsamer, und dann
noch einmal, etwas lauter: «Kotex!». Ich bin aber auch begriffsstutzig! Zum
Glück ist Mahmoud, einer unserer jungen Farsi-Übersetzer, gerade unbeschäftigt,
und ich rufe ihn zu Hilfe: «Kannst du sie bitte fragen, was sie braucht?»
Masoumeh muss ihre Bitte also nun diesem unbekannten jungen Mann ins Ohr
raunen. «Sie braucht Binden», meint er ungerührt und geht zurück an seinen
Platz an der Info-Theke. Masoumeh dankt mir leise und mit niedergeschlagenen
Augen, als ich ihr diskret eine Vierer-Packung Damenbinden in die Hand drücke –
so diskret, wie es der Trubel an unserer Windel-Ausgabe eben erlaubt, an der
jeder zwangsläufig alles mitbekommt. Sie lässt das Päckchen schnell unter ihrer
Strickjacke verschwinden und drückt sich mit hochrotem Kopf durch die
Menschenmenge. Es muss doch einen besseren Weg geben, solche Anfragen zu
handhaben, denke ich etwas ratlos, als ich ihr nachschaue. Immerhin werde ich
beim nächsten Mal direkt «Kotex» anbieten, wenn es Missverständnisse gibt.
(Kotex ist eine Marke wie Tesa oder OB, lerne ich später aus dem Internet, aber
es lässt sich einfacher merken als das offizielle Wort, das sich auf Persisch ungefähr
«Nawar-e bedaschdi» anhört.)
Kulturüberschreitend und übergriffig
Camp Moria
Masoumeh ist Afghanin. Sie kommt
aus einer Kultur, in der sich Männer und Frauen in so unterschiedlichen Welten
bewegen, dass es für unsereins kaum vorstellbar ist. Sie reden auch nicht
miteinander. «Wenn einer von euch Jungs mich in Afghanistan besuchen würde»,
hat es einer unserer Übersetzer unseren Helfern beschrieben, «würde er meine
Mutter und meine Schwestern nicht einmal zu sehen bekommen – selbst wenn er
vier oder fünf Wochen in unserem Haus lebte.» Spätestens in Moria sind unsere
Afghanen, die womöglich erst vor drei, vier Wochen ihr Land verlassen haben,
reif für einen kräftigen Kulturschock. Da werden gestandene Männer von
westlichen, unverhüllten Mädels um die zwanzig ermahnt, sich doch bitte richtig
in der Schlange anzustellen und nicht so zu drängeln. Da bringen amerikanische
Jungs einen Arzt-Gutschein zu einem Zelt und sprechen die Frau des Hauses ganz
direkt an – ihr Mann ist gerade nicht da, aber wir klopfen ja so lange, bis
jemand an den Eingang kommt – und schauen ihr womöglich noch in die Augen, was
bei uns als höflich gilt, von ihr aber als schamlos und übergriffig
wahrgenommen werden muss. Da muss eine junge Frau neben einer Schlange von
Männern, die um Windeln für ihre Babys anstehen, nach Damenbinden fragen.
Und warum?
Immer wieder hört Andrea Wegener
die Frage: Warum machst du so etwas? Was motiviert dich dazu? Könntest du nicht
auch woanders etwas bewegen?
Und sie merkt, dass diese Frage
in ihrem Leben bereits Geschichte hat. 1997 ging sie nach ihrer
Germanistik-Zwischenprüfung für ein halbes Jahr nach Kenia und fand die Idee
einer Uni-Karriere zunehmend fader. 2007 stieg sie bei Campus für Christus ein
und sammelte neben ihrer «normalen» Arbeit Erfahrungen im Ausland. 2010 half
sie nach dem Erdbeben in Haiti. 2014 bekam sie bei einem Katastropheneinsatz im Irak hautnah die Folgen des IS-Terrors mit. All diese Erlebnisse prägten sie und
liessen ihr Herz weich werden für Menschen in Not. Gleichzeitig waren dies
Ausnahmeerfahrungen, denn eigentlich hatte sie ja einen Job am Schreibtisch –
als Chefassistentin, Organisatorin einer europäischen Konferenz und sechs Jahre
lang als Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit. Sie realisierte: Da draussen ist
eine Welt, die mit meiner Wirklichkeit in Deutschland sehr wenig zu tun hat.
Dort gibt es unendliches Leid – und gleichzeitig ist Gott auch dort erfahrbar.
Nach einer Auszeit stellte Andrea
Wegener die Weichen neu. Sie merkte: «Ich finde mich schnell in neuen
Situationen zurecht, bin ungebunden, körperlich und emotional stabil und, in
den Worten einer Kollegin, ‚abgeklärt genug, nicht mehr die Welt retten zu
müssen’. Mein deutscher Pass lässt mich leichter überall hinkommen als Menschen
aus den meisten anderen Ländern. Vielleicht steckt in all dem ja eine Berufung,
die über einen gelegentlichen Auslandseinsatz hinausgeht?» Plötzlich wird ihr
klar: «Ich möchte mein Leben da einsetzen, wo die Welt schreit.»
Ja, mit Gottes Hilfe
So machte sich Andrea Wegener
Ende 2018 auf den Weg, um als Missionarin von Campus für Christus zusammen mit
dem Hilfswerk GAiN im Rahmen der griechischen Hilfsorganisation Euro Relief
unter Geflüchteten auf Lesbos zu arbeiten. Ihr Alltag war und ist geprägt von
wunderbaren Begegnungen und der gleichzeitigen Ohnmacht, (zu) wenig bewegen zu
können. Sie lächelt. Sie begegnet Menschen. Sie versorgt sie mit dem Lebensnotwendigen.
Und sie weiss ganz genau: Gott liebt jeden einzelnen der vielen Geflüchteten,
mit denen sie jeden Tag zu tun hat.