Islam mit Schweizer Identität

Luzern. "Die Schweiz hat gute Voraussetzungen, um die eingewanderten Muslime zu integrieren." Dies sagt der Religions- und Islamwissenschaftler Samuel Behloul (35), der am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Luzern lehrt und forscht. Seine Aussage ist nicht selbstverständlich, denn die Integrationskraft der Schweiz ist durch das starke Wachstum der muslimischen Bevölkerung stark gefordert: Laut Schweizer Volkszählung hat sich die Zahl der Muslime innert zehn Jahren verdoppelt und erreichte im Jahr 2000 den Stand von 311.000 Personen, was einem Bevölkerungsanteil von 4,3 Prozent entspricht.

Alles spricht dafür, dass der Bevölkerungsanteil der Muslime zu Ende des Jahrzehnts oder wenig später die Schwelle von 10 Prozent erreichen wird. Der Trend zur Einwanderung ist ungebrochen, dafür sorgt die schwierige wirtschaftliche und politische Lage in den Heimatländern auf dem Balkan (Kosovo und Bosnien) und in den islamischen Ländern rund um das Mittelmeer. Zudem wächst die junge und kinderreiche Migrantengruppe aus sich selbst heraus - im Gegensatz zur alteingesessenen Bevölkerung, in der mehr Menschen sterben als geboren werden.

Der Christ Behloul, in der Schweiz als Kind eines Algeriers und einer Kroatin geboren, weiss aus persönlicher Erfahrung über interkulturelle Herausforderungen Bescheid. Er verweist darauf, dass jeder Integrationsprozess wechselseitig zu verstehen sei. "Integriert" werden müssten in die neu entstandene Situation beide Gruppen, Einheimische und Migranten. Integration bedeute im Übrigen nicht "Angleichung", sondern zum einen "Einfügen in die Gesellschaft" und zum andern "Teilnehmen an der Gesellschaft".

Ein neuer Teil der Schweiz

Die Muslime würden also auch künftig als eine bestimmte Gruppe in der Schweiz wahrgenommen - allerdings als eine Gruppe, die "integraler Teil" der Schweiz sei. So wie dies mit den eingewanderten Italienern geschehen sei: Diese sind selbstverständlicher Teil der Schweizer Gesellschaft geworden, pflegen indes selbst nach mehreren Generationen noch ihre Besonderheiten, gehen noch immer gerne zur "Italiener-Messe".

Der Religionswissenschaftler macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass viele Migranten sich ihrer geistlichen und religiösen Wurzeln stärker bewusst werden, wenn sie sich in der Fremde niederlassen. So sei besonders seit dem 11. September 2001 etwa unter Jugendlichen aus Südosteuropa eine Renaissance des Islam zu spüren. Begleitet sei sie von der Bereitschaft, sich in die Schweizer Gesellschaft zu integrieren. Die verstärkte Auseinandersetzung mit der ererbten Religion habe viel mit Selbstvergewisserung über die eigene Identität zu tun. Diese Tendenz kontrastiert zum Schweizer Trend zur Konfessionslosigkeit.

Die quantitativ und qualitativ gestiegene Bedeutung des Islam und fernöstlicher Religionen in der Schweiz hat dazu geführt, dass Samuel Behloul zu zahlreichen Vorträgen und Gesprächen eingeladen wird. So gibt er regelmässig dem Pflegepersonal des Kantonsspitals Luzern eine Einführung in den Islam, den Buddhismus und den Hinduismus. Er erläutert praxisbezogen, welchen religiös begründeten Besonderheiten etwa bei Speise, Intimsphäre, Sterben und Tod Rechnung zu tragen sei. Den Umgang mit Muslimen muss auch die Schweizer Armee lernen. Wie können etwa die Fastenzeit des Ramadan und die täglichen Gebete mit dem normalen Dienstbetrieb verträglich gemacht werden? Ähnliches gilt für die Schulen.

"Nation der Kulturen"

Ein wichtiger Vorteil bei der Integration der Muslime sei das Selbstverständnis der Schweiz als eine "Nation der Kulturen", unterstreicht Behloul. Dies im Gegensatz zu Nationalstaaten wie Frankreich, die sich auf eine einzige "Nationalkultur" festgelegt haben. Das Schweizer Staatsverständnis erleichtere die Entwicklung hin zu einem "Schweizer Islam". Ansätze dazu seien bereits erkennbar.

Auf einem Gebiet soll jedoch unbedingt eine Angleichung stattfinden, da ist sich der Religionswissenschaftler sicher: Migranten und Einheimische müssen einen Wertkonsens herstellen. Im Recht müssten dazu neue Wege begangen und das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften neu geordnet werden. Dies ist nicht ganz einfach, da der Islam mit der Scharia eine eigene Rechtstradition kennt und das schweizerische Rechtssystem seine Wurzeln in der christlichen Welt hat. So sind die während der Französischen Revolution formulierten universalen Menschenrechte zwar ein weltliches Werk der Aufklärung, doch beruhen sie auf jüdisch-christlicher Tradition.

Kein Kollisionskurs

Behloul plädiert dafür, die Menschenrechte als Prozess zu verstehen, der nicht beendet sei. Wertvoll für die Verständigung auf gemeinsame Rechtsgrundlagen sei, dass sowohl nach muslimischem als auch nach jüdischem und christlichem Verständnis alle Menschen prinzipiell gleich würdig seien. Er betont, dass staatliches Zivilrecht und Scharia sich nicht prinzipiell auf Kollisionskurs befinden. Es gebe daher in der Praxis nur wenige Konfliktfälle wie das Kopftuchtragen von Lehrerinnen oder die Teilnahme von muslimischen Mädchen beim schulischen Schwimmunterricht.

Die Muslime in der Schweiz bilden - wie auch weltweit - weder ethnisch noch kulturell oder konfessionell eine Einheit. Dieses Faktum führt dazu, dass sie in zahlreichen unterschiedlichen islamischen Vereinigungen organisiert sind. Um als religiöse Minderheit die eigenen legitimen Interessen zu vertreten, ist indes in einigen Schweizer Kantonen gelungen, was in den islamischen Ländern kaum je gelingt: die gemeinsame sprach- und ethnieübergreifende Vertretung nach aussen.

Deutsche Sprache ein einigendes Band

So haben sich im Kanton Luzern sechs islamische Organisationen zu einer Dachorganisation zusammengeschlossen. Die "Vereinigung der islamischen Organisationen des Kantons Luzern" (VIOKL) hat die Integration der Muslime in der Schweiz zum Ziel. Sie will eine religiöse Bildungsstätte schaffen, in der Imame in deutscher Sprache ausgebildet werden sollen. Islamische Kindergärten und eine Freizeitorganisation für muslimische Kinder und Jugendliche sollen entstehen. VIOKL hält enge Kontakte mit christlichen Gemeinden.

Dachorganisationen wie VIOKL vereinigen die Muslime über kulturelle und sprachliche Barrieren hinweg. Die islamische Glaubensgemeinschaft tritt mit ihrer Hilfe aus der Anonymität. Sie sind Ansprechpartner für den Staat. VIOKL hat denn auch die öffentlich-rechtlichen Anerkennung durch den Kanton Luzern zum Fernziel.

Laut Behloul, der an einem Forschungsprojekt des Religionswissenschaftlichen Seminars der Universität Luzern "Religionsgeographie Kanton Luzern" mitwirkt, ist aber nicht vorhersehbar, ob auf Dauer die deutsche Sprache als einigendes Band genügt, um dem internen islamischen Pluralismus standzuhalten. Der Islam etwa der Albaner oder Araber sei sehr stark mit der ethnischen Identität verbunden. Es sei deshalb noch ein weiter Weg bis zu einem "Schweizer Islam", meint Behloul.

Vielfältiger Islam in der Schweiz

Laut Volkszählung befanden sich im Jahr 2000 etwa 311.000 Muslime in der Schweiz, davon waren 36.500 Schweizerinnen oder Schweizer. Zudem rechnet man mit einer beträchtlichen Zahl von Muslimen, die inoffiziell in der Schweiz weilen. Ihre Zahl wird auf 50.000 bis 70.000 geschätzt. Die Muslime praktizieren ihren Glauben je nach religiöser Orientierung, nach Volkszugehörigkeit, Sprache und politischer Observanz in verschiedensten Vereinigungen. Etwa drei Viertel der Muslime in der Schweiz sind Sunniten, zwischen 10 und 15 Prozent sind Aleviten. Die bosnischen Muslime sind in über zwanzig bosnischen Kulturzentren organisiert. Die zahlenmässig grösste Gruppe bilden jedoch die albanischsprechenden Muslime. Bedeutung haben auch die etwa 12.000 Schiiten.

Datum: 25.02.2003
Quelle: Kipa

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