Der Berg Sinai und das Katharinenkloster (Bild: Pixabay)
Der Bund am Sinai
spricht auch in die heutige Zeit, sagt die jüdische Gelehrte Irene Lancaster. Unter
anderem könne man gerade in der heutigen Corona-Zeit daraus lernen, dass Gott
die Zusammenarbeit wichtig ist.
«Ist es nicht erstaunlich, dass der Höhepunkt der
Offenbarung am Sinai in einem biblischen Buch stattfindet, das nach einem
Heiden aus Midian namens Jethro benannt ist, der zuvor ein Berater des bösen
Pharaos gewesen war?», fragt die jüdische Wissenschaftlerin und Autorin Irene
Lancaster bezüglich Exodus Kapitel 18, Vers 1 bis Kapitel 20, Vers 23, das in der Tora «Jethro» genannt
wird.
Ebenso erstaunlich ist die Tatsache, dass Gottes
Offenbarung am Sinai jedem einzelnen Mann, jeder Frau und jedem Kind gegeben
wurde, unabhängig von ihrem Rang oder Status, erklärt Lancaster weiter und
verweist auf Exodus Kapitel 20. «Die Sinai-Erfahrung war eine basisdemokratische,
von unten nach oben gerichtete, nicht-hierarchische Erfahrung, in der die
Prinzipien von Gottes 613 Sprüchen an das jüdische Volk und 7 Sprüchen an die
nichtjüdische Welt erfahren und verinnerlicht wurden.»
Weiter erklärt Lancaster, dass gleichzeitig sehr klar sei, was Gott von seinem Volk erwartet und dass er partnerschaftlich mit ihm
arbeitet. Zu diesem Zweck sind Lehrer, die sich um andere kümmern und selbst
ständig lernen, unerlässlich.
«Am Sinai machte Gott einen Deal mit dem jüdischen
Volk und gab ihnen ein Buch. Der Deal war, dass jeder Mann, jede Frau und jedes
Kind dieses Buch auf einer täglichen Basis studieren würde.» Und so würde dies
von Generation zu Generation weitergegeben.
Partnerschaft erwünscht
Irene Lancaster
«Ein Gleichnis veranschaulicht am besten die
Bedeutung, die Gott auf menschliche Interpretationen legt, die auf den
Prinzipien basieren, die am Sinai festgelegt wurden: Ein Mann lebt auf einem
Berg und ist glücklich, von rohen Weizenkörnern zu leben. Dann trifft der Mann
auf einige Besucher, die ihm zum ersten Mal in seinem Leben eine Scheibe Brot
anbieten. Es schmeckt ihm sehr gut. Dann kommt eine andere Gruppe von Reisenden
zu Besuch und bietet ihm am Sabbat Challah-Brot an, das mit Eiern und Honig
gebacken wurde.»
Der Mann ist misstrauisch gegenüber dieser scheinbaren
Delikatesse und fragt stattdessen nach dem Wetter im Tal unten, berichtet Irene
Lancaster weiter. «Und die letzte Gruppe von Bergsteigern kommt mit dem
Geschenk eines Schokoladenkuchens, der mit Marzipanglasur überzogen und oben
mit gehobelten Mandeln bestreut ist. Der Mann ist so überwältigt von dieser
unerwarteten und raffinierten Belohnung, dass er völlig aus dem Konzept gerät
und zurück auf den Gipfel des Berges eilt, wo er wieder seine Kerne kaut und
sich schwört, sich nie wieder von seinem himmlischen Gipfel herunterzuwagen.»
Irene Lancaster erklärt weiter, dass damit gemeint
ist, dass Gott durch die Schrift für uns ein Brot backen will und allmählich
zum köstlichen und raffinierten Kuchen übergehen will. «Gott hat uns absichtlich ein Gehirn gegeben, das der
grosse spanische jüdische Exeget Abraham ibn Esra (1089-1164) in seinem
Meisterwerk, dem Kommentar zur Thora, als 'den Engel zwischen Gott und der
Menschheit' bezeichnete. Gott will also, dass wir Raffinesse und Wissenschaft,
Poesie, Philosophie, Übersetzung, Musik und Medizin verstehen.»
Israel mit Vorreiterrolle
Das hat uns das vergangene Jahr auf sehr pointierte
Weise vor Augen geführt, so die jüdische Gelehrte weiter. «Die Covid-Situation
hat die Zusammenarbeit und das Lernen von anderen unabdingbar gemacht. In
gewisser Weise hat Covid, vielleicht ironischerweise, die Welt näher
zusammengebracht. Der Staat Israel hat eine Vorreiterrolle eingenommen, indem er die
Katastrophe vorausgesehen und sehr früh Medikamente bestellt hat, sowie
angeboten hat, seine Daten der ganzen Welt zugänglich zu machen, um anderen zu
helfen.»
Ausserdem sei der jüdische Staat weltweit führend in
der medizinischen Digitalisierung. «Aber Wissenschaft und Technologie sind
nicht genug. Was ist der Hauptbestandteil der Lehre vom Sinai, der den
Missbrauch der Früchte unserer Geisteskraft verhindern soll? Die Hauptlehre vom
Sinai muss immer 'Wähle das Leben' sein. Es ist die Erfahrung Israels während
der letzten 72 Jahre, dass alle Register gezogen werden müssen, um das Leben
seiner gesamten Bevölkerung in einem Krieg nach dem anderen zu retten.» Denn
während Israel daran arbeitet, lebensrettende Impfungen zu entwickeln, gebe es
Mächte von aussen, die auf die vollständige Zerstörung des Staates aus sind.
Gott interessiert sich für Eltern und Kinder
Gott am Sinai geht es laut Lancaster nicht um Könige
und Päpste, Priester und Adlige, Diktatoren und Potentaten. «Was Gott
interessiert, sind Eltern und Kinder, Gemeinschaften, Einsatz, Lernen, kleine
Taten der Freundlichkeit, und wie eine Generation ihre Weisheit an die nächste
weitergibt, die dann die Dinge weiterführt.»
Was Gott am Sinai der Welt heute sagt, sei: «Ich kann
euch, allen fast acht Milliarden von euch, die Bausteine geben, aber ihr, meine
Schöpfung, seid dafür verantwortlich, den Rest zu tun und die Früchte eurer
Weisheit sowohl an den Rest der Welt als auch an die jüngere Generation
weiterzugeben, damit es zum Wohle des ganzen Planeten fortgeführt werden kann.»